Wie weiter in der Ukraine? Zwischen Waffenstillstand und bedingungsloser Kapitulation

LOGBUCH LII (25. Oktober 2023). Von Christoph Rohde


Der nahezu zwei Jahre andauernde Krieg in der Ukraine fordert wöchentlich Tausende von Opfern. Dennoch sind sowohl die Ukraine als auch Rußland noch immer davon überzeugt, daß sie ihre jeweiligen strategischen Ziele erreichen können. Der Konflikt, der inzwischen den Charakter eines Abnutzungskrieges angenommen hat, schließt die Dynamik ein, daß beide Seiten aus den Erfahrungen des Krieges lernen und das Gelernte in immer perfidere militärische Strategien umsetzen. Der Stellvertretercharakter des Krieges wird zunehmend offensichtlicher. Unterstützt der Westen unter Führung der USA die Ukraine massiv mit Waffenlieferungen, Geheimdienstinformationen und militärischer Beratung, so bekommt Rußland Unterstützung von antiwestlich eingestellten Staaten wie dem Iran oder Nordkorea. China positioniert sich scheinbar indifferent in dem Konflikt, unterstützt Rußland jedoch massiv durch die Abnahme von Rohstoffen und die Lieferung von Dual-use-Gütern.

Die geopolitische Vorgeschichte des Krieges, die häufig in den Hintergrund gerückt wird, spielt  bei potenziellen Befriedungskonzepten bisher keine Rolle. Denn wertebezogene Sichtweisen auf die Politik – auf der einen Seite der Völkerrechtsbrecher, auf der anderen die Verteidiger des Rechts – verschleiern reale Machtverhältnisse und sind deshalb Instrumente der Mächtigen zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft, sei es in der Innenpolitik oder auch in außenpolitischen Belangen. Die realistische Aussicht auf einen Waffenstillstand besteht jedoch nur dann, wenn die realen Interessen der beteiligten Akteure explizit auf den Tisch gelegt werden und wenn Möglichkeitsräume für Kompromisse geschaffen werden, die es den Akteuren ermöglichen, ihrer heimischen Öffentlichkeit Verhandlungsergebnisse als Erfolge zu verkaufen. In diesem Artikel wird die Ansicht vertreten, daß jenseits der russischen Verantwortung für den Ausbruch des Krieges dessen ideologische Aufladung jede Friedensoption verhindert.  


Imperialismus versus Liberalismus – kein Raum für Kompromisse

Weltanschauliche Absolutismen sind stets Einstellungen, die Verständigung im Allgemeinen und diplomatische Lösungen im Speziellen verhindern. Diese recht banale Einsicht, die erst zum diplomatischen Geniestreich des Westfälischen Friedens  nach dem Dreißigjährigen Krieg geführt hat, muß allerdings immer wieder neu formuliert werden, meist von erfahrenen und der Geschichtskenntnis mächtigen Staatsmännern wie George F. Kennan[1], Henry A. Kissinger oder Helmut Schmidt. Denn Verhandlungen ermöglichende Diskursräume und Kompromißchancen werden durch die ideologischen Schleier versperrt, die Akteure generell umgeben. Die vorstehend genannten Diplomaten waren klassische Vertreter eines Denkens in Termini von Mächtegleichgewichten[2].

Leider sind bei den am Ukraine-Krieg beteiligten Akteuren ideologische Radikalisierungsprozesse festzustellen. War Vladimir Putin bis Anfang der 2000er Jahre noch an einer Integration in den Westen interessiert, so wandelte sich seine Einstellung aufgrund von von ihm empfundenen  Demütigungen seitens des Westens. Putin wandte sich panslawistisch-neonationalistischen Ideen eines Großrußland zu, die durch eine nationalistische Version des russisch-orthodoxen Christentums ergänzt wurden[3]. Dieser nationalistische Ansatz dient vor allem der innenpolitischen Herrschaftskonsolidierung, denn praktisch ist sich Putin der Grenzen seiner Macht in der Weltpolitik bewußt. Dennoch hat die Schwäche des Westens, die sich in Syrien und Afghanistan gezeigt hat[4], ihn dazu ermutigt, die postsowjetische Sphäre zu konsolidieren, indem er die „russische Erde“ einsammelt, d. h. indem er Teile der ehemaligen Sowjetunion zurückerobern möchte. Ein Ausgreifen Rußlands auf das NATO-Gebiet scheint dennoch unrealistisch. Selbst das anfällige Baltikum, das durch die Suwalkilücke zwischen Weißrußland und Kaliningrad besonders angreifbar ist, würde von Rußland wahrscheinlich nur zum militärischen Schauplatz gemacht, wenn die NATO in den Krieg eingreifen sollte.

Wenn der Westen auf einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine binnen mittlerer Frist beharrt, dann sind Friedensverhandlungen unrealistisch. Maximale Forderungen ohne die Berücksichtigung der Interessen des Gegners führen stets in die Sackgasse.


Die moralische Blindheit des liberalen Menschen

In unnachahmlicher Weise hat der amerikanische Politikwissenschaftler Hans Morgenthau die Selbstgerechtigkeit der sogenannten Liberalen in der amerikanischen Außenpolitik beschrieben[5]. Er zeigt, daß liberale Utopisten dazu tendieren, die Welt aus einer rechts- und vernunftorientierten Perspektive zu betrachten, die ihren Interessen dient, die globalen machtpolitischen Realitäten  jedoch ausblendet. Saturierte Mächte, die am Status quo interessiert sind, sehen in Mächten, die aus historischen oder geostrategischen Gründen Veränderungsambitionen aufweisen (revisionistische Mächte), Bösewichte, die das bestehende völkerrechtliche System in Frage stellen wollen. Dabei ist das Recht strukturell konservativ und dient denen, die vom gegenwärtigen Zustand profitieren. Das Recht bietet folglich keine legitimen Mittel, um Veränderungen im System zu bewirken. Das Problem des liberalen Denkens ist, daß es diesen Status-quo-Dualismus nicht nur bestätigt, sondern sogar moralisch auflädt. Es ist entlarvend, daß das von George W. Bush beschworene Bild der „Achse des Bösen“ im Ukraine-Konflikt wieder publizistisch aufgenommen wird. Ja, die Rußland unterstützenden Mächte Iran und Nordkorea sind schreckliche Autokratien. Dennoch führt die moralische Dimension bei der Bewertung von Konflikten zu einer moralischen Blindheit, wie Morgenthau zeigt. Wenn Eigeninteressen in einem Konflikt nicht benannt werden, führt dies dazu, daß die eigene Gesinnung einseitig als einzig gute und zulässige Einstellung betrachtet werden muß. Steven Walt hat in seinem Buch The Hell of Good Intentions (2018) gezeigt, wie stark die Gemeinschaft der liberalen Internationalisten in der westlichen Welt die akademischen, medialen und politischen Institutionen dominiert. Diese Tatsache wird im Falle des Ukraine-Krieges im öffentlichen Diskurs überdeutlich.

Wer nicht die bedingungslose Kapitulation im Sinne eines vollständigen Rückzugs Rußlands aus den seit 2014 okkupierten Gebieten fordert, gerät in die moralische Defensive oder wird gar als Putin-Versteher gebrandmarkt. Unter Beschuß gerieten profunde Kenner der Sicherheitspolitik wie General Erich Vad[6], der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin oder der emeritierte Bonner Politikprofessor Christian Hacke, der sich bereits vor Jahren für eine neutrale Ukraine ausgesprochen hat. Hacke pflegt gute Beziehungen zum Chicagoer Wissenschaftler John Mearsheimer, der den USA eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine zuweist[7] und dessen Einschätzungen ebenfalls hart kritisiert werden.

Dafür gibt es Experten aus dem akademischen Bereich, die ihre differenzierte Perspektive verlassen haben und sich zum Instrument der westlichen Propaganda machen ließen. Ihre permanente Präsenz in den öffentlich-rechtlichen Medien hat ihnen eine bedeutende Prominenz jenseits der Fachdisziplin Internationale Politik beschert. Stellvertretend seien hier Carlo Masala von der Bundeswehruniversität München oder Claudia Major von der Stiftung Sicherheit und Politik in Berlin genannt. Masala vertrat bis vor nicht allzu langer Zeit selber einen Ansatz, der sich Struktureller Realismus nennt und die machtpolitischen Kontexte thematisiert, die in konkreten Konfliktkonstellationen eine wichtige Rolle spielen. Seine letzten Arbeiten waren der westlichen Politik gegenüber durchaus kritisch eingestellt; dies wird zum Beispiel in seinem mehrfach aufgelegten Werk Weltunordnung (2016) deutlich, in welchem er den missionarischen und unversöhnlichen Charakter des demokratischen Imperialismus der amerikanischen Liberalen scharf kritisierte. Heute steht er an der Spitze der liberalen Internationalisten, die die Welt ausschließlich aus der amerikazentrischen Perspektive betrachten.

Es sind radikalisierte Liberale von Anton Hofreiter über Agnes Strack-Zimmermann bis zum Unionsexperten Roderich Kiesewetter, die die bedingungslose Einlösung von Selenskijs Forderungen durch die deutsche Politik erwarten, ohne die Tatsache zu berücksichtigen, daß es sich bei der Ukraine noch um ein sehr korruptes und demokratisch unreifes Gebilde handelt. Sie kritisieren Bundeskanzler Olaf Scholz für seine zögerliche Haltung bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Dabei ist diese hanseatische Zurückhaltung eine diplomatische Qualität. Eine bedingungslose Unterwerfung unter die Interessenlage eines anderen Akteurs wird in der Allianztheorie als „Entrapment“ (In-die-Falle-Gehen) bezeichnet. Deutschland muß seine Interessen unabhängig vertreten und darf sich nicht stets auf höhere Werte berufen[8]. Die ehemalige NATO-Mitarbeiterin Stefanie Babst fordert gar einen  aktiven Einsatz der NATO in dem Konflikt und hält die Drohungen Rußlands mit dem Einsatz von Atomwaffen für einen großen Bluff[9].


Die kostenträchtige Gegenoffensive der Ukraine

Es liegt im Interesse der Ukraine, Europa so weit wie möglich in den Konflikt hineinzuziehen. Die USA wiederum nutzen den Konflikt, um einen globalen Konkurrenten weiter zu schwächen. Das Narrativ, daß in der Ukraine die Freiheit des Westens verteidigt werde, erinnert frappierend an die Behauptung des damaligen Verteidigungsministers Struck, die deutsche Freiheit werde am Hindukusch verteidigt. Es ist richtig, daß es notwendig ist, dem russischen Revisionismus entgegenzutreten. Doch der bedingungslose Einsatz für ein noch nicht demokratisch entwickeltes Land, das das Schicksal eines Pufferstaates hat, ist nicht im Interesse Deutschlands. Die ukrainische Gegenoffensive schafft bei großen Opfern auf beiden Seiten lediglich marginale Geländegewinne. Die dreifache Abwehrlinie der Russen kann nur bei einer geschätzten 5:1-Überlegenheit der Rückeroberer überwunden werden. Auf beiden Seiten sind zahlreiche Berufsoffiziere gefallen, so daß einander mehr und mehr Reservisten gegenüberstehen.

Rußland erhöht seine Panzerproduktion erheblich. Der russische Panzerhersteller Uralwagonsawod hat eine Charge an T-90M-Panzern und modernisierten T-72-Panzern an die Armee ausgeliefert (Merkur, 23.07.2023). Dazu greift Rußland auf Kamikaze-Drohnen aus dem Iran zurück. Außerdem wird es von China mit Dual-use-Gütern versorgt, die nicht in die militärische Statistik einfließen, die Rüstungsindustrie jedoch unterstützen. Erstaunliche Schwächen zeigt Rußland in Bezug auf die Verteidigung seiner Schwarzmeerflotte sowie die eigene Infrastruktur auf der Krim. So wurde Anfang Juli 2023 die Kertsch-Brücke, die zur Halbinsel Taman in der russischen Region Krasnodar führt, erheblich beschädigt. Im September 2023 wurde das Oberkommando der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim attackiert. Die Bedeutung der Drohnenkriegsführung nimmt stetig zu, aber hier halten sich die taktischen Vorteile des jeweiligen Einsatzes nach Ansicht zahlreicher Experten die Waage.

Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine haben dafür gesorgt, daß die Ukraine den territorialen Status quo im Donbas halten konnte. Dabei erwiesen sich Artilleriesysteme als besonders wirkungsvoll, etwa die deutsche Panzerhaubitze 2000 oder das amerikanische HIMARS-Raketenwerfersystem. Ebenso sind Luftabwehrsysteme wie das Patriot-System hilfreich. Deutschland weigert sich (Stand 5.10.2023), das bunkerbrechende Raketensystem TAURUS zu liefern, mit dem die Kertsch-Brücke zerstört werden könnte.

Die Artilleriesysteme haben sich von ungenau treffenden Flächenfeuerwaffen durch GPS-Steuerung und Zielbestimmungssysteme per Laser zu Hochpräzisionswaffen entwickelt. Die im Herbst von den USA gelieferte ATACMS-Kurzstreckenrakete mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern kann die strategischen Nachschubwege auf der Krim abschneiden helfen. Die Krim ist die Achillesferse der Russen, die Teile ihrer Schwarzmeerflotte aus Sevastopol abgezogen haben, weil sie die Unterwasserdrohnenangriffe der Ukraine nicht in den Griff bekommen. Wegen der Überlegenheit der Russen an rekrutierbaren Bodentruppen können auch überlegene westliche Waffen kaum zu einer Befreiung des gesamten ukrainischen Territoriums führen. Die Waffenlieferungen werden also keine „Game changer“ sein; umgekehrt jedoch wird die Ukraine ohne substanzielle Waffenlieferungen des Westens weitere Gebiete verlieren. Die Russen versuchen, den Krieg auf dem bisherigen Eskalationsniveau zu halten, um ihre Reserven zu erneuern; ihre Strategie besteht grundsätzlich in der Konsolidierung der bis dato eroberten Gebiete und ist deshalb prinzipiell defensiv orientiert[10]. Dabei setzt man auf die Variable Zeit, denn die Erosion der Unterstützung der Ukraine durch die Alliierten spätestens nach den US-Wahlen liegt im Bereich des Möglichen.

Eine unberechenbare Rolle im Krieg spielen die nach dem Tod ihres Führers Jewgeni Prigoschin orientierungslosen, sich in Weißrußland aufhaltenden Wagner-Söldner[11]. Lassen sie sich in die reguläre russische Armee eingliedern oder werden zahlreiche Kräfte von der ukrainischen Seite „gekauft“?
Eine hervorragende, im Rahmen des Möglichen neutrale Lageberichterstattung des Kriegsverlaufs bieten die Vorträge vom österreichischen Oberst und Militärhistoriker Markus Reisner, der über gute Quellen verfügt und die Stärken und Schwächen beider Kriegsparteien profund darzustellen in der Lage ist.


Deutschland größter externer Verlierer des Krieges

Es ist Deutschland, das der größte Verlierer des Ukraine-Krieges unter den externen Akteuren sein wird. Sein  energiepolitischer Sonderweg in Verbindung mit der schrumpfenden Wirtschaftskraft im Kontext des Ukraine-Krieges führt zu schwindendem politischem Einfluß. Dazu kommt der miserable Zustand der Bundeswehr, die aufgrund akuten Materialmangels kaum verteidigungsfähig ist, was Verteidigungsminister Boris Pistorius unverblümt eingesteht (Merkur, 03.03.2023)[12]. Eine moralistisch herummäandernde, unerfahrene Außenministerin, die den chinesischen Präsidenten als Diktator bezeichnet und Rußland versehentlich auf dem Forum der UNO den Krieg erklärt, verstärkt noch die Abnahme jener „Soft Power“ (Joseph S. Nye), die Deutschland international lange Zeit als diplomatische Vermittlungsinstanz attraktiv machte.

Deutschland hat durch die Aufnahme von über einer Million ukrainischer Flüchtlinge und Waffenlieferungen Unterstützungsleistungen an die Ukraine in Höhe von 36 Milliarden Euro geleistet, wobei die anteiligen Leistungen im Rahmen der EU berücksichtigt sind[13]. Nur die USA haben mit 69 Milliarden eine größere Summe bereitgestellt. Im Vergleich zu Mittelmächten ähnlicher Größe hat Deutschland mehr als doppelt so viel Unterstützung geleistet. Dabei hat man die ohnehin suboptimal ausgestattete Bundeswehr weiter geschwächt. Das Land, das in eine Rezession und eine strukturell bedingte schwächere Wettbewerbsposition geraten ist, hat weniger Spielraum für dringend notwendige Investitionen.

Deutschland zeigt sich als eifrigstes Land bei der Umsetzung der Wirtschaftssanktionen gegen Rußland. Der sofortige Verzicht auf russisches Öl und Gas wurde von den anderen westlichen Nationen nicht in dieser Konsequenz nachvollzogen. Die Raffinerie in Schwedt an der Oder wurde ohne Übergangsfristen abgestellt, obwohl der Boykott des Imports russischen Öls nicht sofort hätte umgesetzt werden müssen. Der radikale deutsche Verzicht auf russisches Gas wurde international belächelt, da durch die dadurch bedingten hohen Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen erheblich geschwächt wird. Der Exodus zahlreicher mittelständischer Betriebe ins Ausland hat bereits erheblich Fahrt aufgenommen.

Bitter ist, daß Deutschland indirekt weiterhin russisches Gas kauft, nur zu erheblich höheren Kosten, vermittelt durch Zwischenlieferanten. Dazu kommt, daß die Sanktionen gegen Rußland kaum Wirkung zeigen, außer in spezifischen High-Tech-Bereichen.

Der amerikanische Wirtschaftssender Bloomberg berichtet, wie die Inder und Saudis russisches Öl günstig kaufen und viel teurer weiterverkaufen. Chinesische Firmen haben sich stark in die russische Volkswirtschaft eingekauft und nutzen dabei Infrastrukturen, die deutsche Firmen über lange Jahre aufgebaut haben. Die Sprengung der Ostsee-Pipelines widerspricht deutschen Interessen, wird aber kaum ernsthaft aufgeklärt. Die Erzählungen darüber sind vielfältig, aber eine ukrainische Täterschaft scheint sich zu erhärten[14].


Die Interessen der BRICS-Staaten sind nicht identisch mit jenen des Westens

Rußland hat sich strategisch auf China und den Fernen Osten festgelegt. Michael Lüders kritisiert den Westen dafür, mit seinen Gegnern nicht zu sprechen. Wie die nur bedingt wirksame Sanktionspolitik des Westens gegenüber Rußland zeigt, haben die Länder des globalen Südens eigene Interessen. Die Vision einer multipolaren Welt geht Hand in Hand mit der Klage über westliche Doppelstandards bei der  Bewertung politischer Handlungen internationaler  Akteure[15]. Die Demokratisierung der Welt als westliche Zukunftsvision mit den individuellen Freiheitsrechten im Zentrum trifft im globalen Süden und in den eher kollektivistisch denkenden asiatischen Großstaaten auf Skepsis; die Mächte des globalen Südens positionieren sich neu. Die Kritik an der Lehrmeistermentalität des Westens, besonders eindrucksvoll symbolisiert durch die weltreisende Moralistin Annalena Baerbock, zeitigt praktische Folgen, indem etwa eine Verurteilung Rußlands auf dem G20-Gipfel vermieden wird. Es bilden sich neue Allianzen im ökonomischen und währungspolitischen Bereich; die Chinesen versuchen durch ein eigenes Währungssystem die Weltreservewährung Dollar langfristig abzulösen.


Wohin geht es? Es bleibt nur eine Demarkationslinie

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß ein Waffenstillstand den Krieg nach dem Muster des 38. Breitengrades im Koreakrieg an einer festgelegten Demarkationslinie einfrieren wird. Der bis dahin geführte Abnutzungskrieg stellt eine Tragödie dar. Sollte eine Seite zu stark in die Defensive geraten, ist der Einsatz von Atomwaffen nicht undenkbar. Eine bedingungslose Kapitulation gibt es im Atomzeitalter nicht.

Die amerikanischen Wahlen könnten zu einer Reduzierung des amerikanischen Engagements führen, das von Europa aufgefangen werden müsste. Allerdings nimmt die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine auch in Europa signifikant ab. Ein militärisch schwacher und ökonomisch immer schwächer werdender Kontinent wird dazu kaum in der Lage sein. Genau von diesem Kalkül scheint Vladimir Putins Politik getrieben zu sein. Die Hoffnung, daß nach Putin ein prowestlicher Nachfolger zu einer neuen Entspannungspolitik bereit sein könnte, scheint unrealistisch, zudem potenzielle Nachfolger eher noch nationalistischer orientiert sind. Wie Oberst Reisner in seinem Vortrag verdeutlichte, sind historische Analogien nur bedingt aussagekräftig, wenn man Szenarien vom Ende des Konflikts entwickelt. Wir beobachten „history in the making“[16]. Jeder Schritt ist mit Risiken behaftet. Ein temporärer Waffenstillstand, der langfristig zu Friedensverhandlungen führt, scheint mittelfristig der realistischste und kostengünstigste Ausweg zu sein. Die Ukraine wird eine dauerhafte Kostenfalle für Europa darstellen. Je länger der Krieg dauert, desto schwächer werden auch die Europäische Union und Deutschland. Allein der verlorengegangene Zugriff auf die russischen Rohstoffe und seltenen Erden schwächt den Kontinent im globalen Wettbewerb. Aber auch die Wiederaufbaukosten, die Flüchtlingswellen und die militärischen Unterstützungsleistungen rauben der Europäischen Union ihre materielle Substanz. Die Interessen Europas und Deutschlands unterscheiden sich maßgeblich von denen der Vereinigten Staaten.

Letztlich kann nur eine Entmoralisierung des Konflikts Korridore für Verhandlungslösungen öffnen. Denn solange die westliche Position mit einem universal gültigen Regelsystem gleichgesetzt wird, werden die BRICS-Staaten und weitere nichtwestliche Akteure einer Konfliktlösung nicht zustimmen. Wenn Rußland und dessen Unterstützernationen als Schurkenstaaten betrachtet werden, dann sehen sich auch die anderen nichtwestlichen Staaten als Objekte des westlichen Moralismus. Sie sind dann nicht bereit, eine internationale Ordnungsstruktur anzuerkennen.


[1] George F. Kennan: American Diplomacy. Chicago: Chicago University Press 2012 (1950).
[2] Christoph Rohde: Hans J. Morgenthau und der Weltpolitische Realismus. Wiesbaden: VS-Verlag 2004, Kap. 7.
[3] Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. München: Beck Verlag 2018.
[4] Christoph Rhode: Die potenziellen geopolitischen Folgen des Ukraine-Krieges, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 15 (2022), S. 201–220.
[5] Hans J. Morgenthau: Scientific Man versus Power Politics. Chicago 1946, Kapitel 7.
[6] Siehe die Beiträge von Nida-Rümelin und Vad in: J. Nida-Rümelin / M. Kumm / E. Vad / A. von Müller / W. Weidenfeld / A. Vollmer (Hg.): Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg. Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung? Freiburg i. Br.: Herder Verlag 2022.
[7] John J. Mearsheimer: The Darkness Ahead: Where The Ukraine War Is Headed (substack.com). https://mearsheimer.substack.com/p/the-darkness-ahead-where-the-ukraine
[8] Dies ist das Fazit von Klaus von Dohnanyis wichtigem Werk Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Berlin: Siedler 2022.
[9] Stefanie Babst: Sehenden Auges. Mut zum strategischen Kurswechsel. München: DTV 2023.
[10] Kreml hat neues Kriegsziel: Russland will noch gewaltige Gebiete erobern (ntv.de). https://www.n-tv.de/politik/Russland-will-noch-gewaltige-Gebiete-erobern-article24313285.html
[11] Jewgeni Prigoschin: Verbleib von Wagner-Söldnern in Belarus unklar (ZEIT online). https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-08/wagner-alexander-lukaschenko-belarus-litauen
[12] Pistorius fällt vernichtendes Urteil über die Truppe: „Streitkräfte nicht verteidigungsfähig“ (merkur.de). https://www.merkur.de/politik/pistorius-bundeswehr-verteidigungsfaehigkeit-lambrecht-streitkraefte-urteil-92116688.html
[13] Ukraine-Krieg: Ranking größte Unterstützer 2022/2023 (Statista). https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1367150/umfrage/ukraine-krieg-ranking-groesste-unterstuetzer/
[14] Nord-Stream: Ermittler vermuten "Andromeda"-Crew in Ukraine (ZDF heute). https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nord-stream-taeter-andromeda-ukraine-krieg-russland-100.html
[15] Michael Lüders: Moral über alles. München: Goldmann Verlag 2023.
[16] Oberst d. G. Dr. Markus Reisner zur aktuellen Lage in der Ukraine. https://youtu.be/Z1bKrwqzJzQ?si=HRRpZDSDL92_Xqhx


Dr. Christoph Rohde, Politikwissenschaftler und Sicherheitscoach, veröffentlichte 2021 im Lepanto-Verlag das Buch Das Kreuz und der Krieg. Prämissen einer realistischen katholischen Friedensethik. Schon frühere Logbuch-Einträge von ihm beschäftigten sich mit dem Ukrainekrieg aus der Perspektive eines christlichen Realismus:

Das Ende des Dornröschenschlafes – Der Krieg in der Ukraine, die deutsche Sicherheitspolitik und eine christlich-realistische Friedensethik
Der fortschreitende Ukraine-Konflikt (1): Ein moralisches Dilemma für Christen
Der fortschreitende Ukraine-Konflikt (2): Sieben Punkte zu einer christlich-realistischen Eindämmung des Konfliktes


Abbildung: Explosion in Kiew, 20.03.2022; Foto: Алесь Усцінаў via pexels.com

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