Der fortschreitende Ukraine-Konflikt (2): Sieben Punkte zu einer christlich-realistischen Eindämmung des Konfliktes

LOGBUCH XLI (25. Februar 2023). Von Christoph Rohde


Erstens: Weltanschauliche Abrüstung

Solange der geopolitische Konflikt maßgeblich in Begriffen von Gut und Böse geführt wird, gibt es keinen Spielraum für Kompromisse. Politik beinhaltet jedoch stets die Opferung höchster moralischer Prinzipien zugunsten zweitbester, sie erfordert emotional häufig als „faul“ empfundene Kompromisse. Wer die Dämonisierung des Gegners betreibt, kann keine anderen Forderungen stellen als die der bedingungslosen Kapitulation. Und wer sich mit Kriegen beschäftigt hat, der muß feststellen, daß diese maximalen Bedingungen in der Regel von maximal brutaler Kriegführung und einem dämonischen Vernichtungswillen begleitet werden. Die Bedrohungswahrnehmung auf Seiten Rußlands vor der Entstehung des Krieges (Rohde 2021, S. 53) darf ebenso wenig außer acht gelassen werden wie die Präferenz der Ukraine für einen NATO-Beitritt. Neben dem reinen Machtkonflikt spielen auch gewachsene historische Identitäten eine wichtige Rolle. Für Christen ist es notwendig, sich auch in die Rolle des Gegners hineinzuversetzen und bei allem Widerspruch den Haß nicht zuzulassen.


Zweitens: Plädoyer für ein selbstbestimmtes völkerrechtliches System, das Werte nicht verabsolutiert

Die in Kreisen liberaler Internationalisten verbreitete Denkweise, die Welt in „demokratische“ und „autokratische“ Staaten einzuteilen, wird der Komplexität der internationalen Ordnung nicht gerecht. Diese Dichotomie führt zu der verheerenden Denkweise, daß, „wer nicht für uns ist, gegen uns ist“, um ein Bonmot George W. Bush nach dem Anschlag des 11. September 2001 frei wiederzugeben. Gerade dieser willkürliche Anspruch der USA, überall zu intervenieren, wo man die eigenen Interessen durch Terroristen gefährdet wähnt, hat die internationale Anarchie verschärft (Rohde 2021, S. 53) und die Feinde der USA zu neuen Rüstungsanstrengungen bewogen. Nordkorea und der Iran glauben, nur mit Hilfe einer nuklearen Bewaffnung vor einer amerikanischen Intervention sicher zu sein.
Der Westen muß seine Ideologie des „humanitär“ begründeten Regime Change aufgeben, um nichtdemokratischen Nationen, die sich aber an das Völkerrecht halten, zuverlässige Sicherheitsgarantien zu gewähren. Nicht zufällig haben sich große Staaten wie Indien, Indonesien oder Brasilien geweigert, sich den westlichen Sanktionen gegen Rußland anzuschließen. China muß verdeutlicht werden, daß es den Konflikt nicht durch eigene Waffenlieferungen weiter verschärfen darf, sondern vielmehr die Reifeprüfung als friedenstiftender Akteur bestehen kann.
Auch für Christen ist es legitim, daß sich überfallene Akteure verteidigen. Eine Friedensethik beinhaltet die aktive Bereitschaft zur Selbstverteidigung (Rohde 2021, S. 118). Der individuelle Pazifismus muß von der staatlichen Ordnungsfunktion der Gewaltanwendung sorgfältig getrennt werden (Rohde 2021, S. 116).


Drittens: Aufbau eines Gremiums geistlicher Persönlichkeiten, die aufgrund von moralischer Autorität glaubwürdige internationale Verhandlungspartner darstellen

Konkrete Fortschritte im politischen Miteinander hängen von der Veränderung des menschlichen Klimas unter den Entscheidungsträgern ab. Die Entschärfung des Kalten Krieges war auch das Resultat der menschlichen Annäherung unter den Regierenden. Hier hat sich die katholische Kirche durch Päpste wie Johannes Paul XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. bedeutende Verdienste erworben (Rohde 2021, S. 205–209). Eine Reise von Papst Franziskus nach Kiew könnte als wichtiges Zeichen der Solidarität gelten. Leider geht die russisch-orthodoxe Kirche unter Kyrill I. den Irrweg, den die protestantische Kirche unter den „Deutschen Christen“ im Dritten Reich verfolgte. Die katholische Kirche sollte ihr diplomatisches Potential offensiv zum Brückenbauen einsetzen.


Viertens: Die Demokratie des Westens muß nicht nur nach außen, sondern auch nach innen verteidigt werden

Die Verteidigungsbereitschaft der Bürger in Deutschland ist so gering wie nie zuvor in der Geschichte. Denn eine klare Identität im Sinne eines gesunden bürgerschaftlichen Patriotismus wird in der multikulturellen Gesellschaft nicht mehr vermittelt. Eine Synthese aus kulturellem Selbsthaß und moralistischer Überheblichkeit kennzeichnet die Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft der Gegenwart (Schröter 2022). Ein Land, das kaum seine Innenstädte vor Übergriffen durch gewalttätige Gruppen schützen kann, das zudem nicht bereit ist, seine Grenzen zu sichern und dessen Militär kaum Munition für drei Tage zur Verteidigung des eigenen Territoriums besitzt, ist nicht autonom handlungs-, geschweige denn wehrfähig. Die Tatsache, daß unsere freie Gesellschaft selbst das Resultat blutiger Kriege und gesellschaftlicher Transformationsprozesse ist, sollte zur Bereitschaft der Rückbesinnung auf eigene Werte führen. Der Wertenihilismus des in Beliebigkeiten zerronnenen Westens ist kein Vorbildmodell mehr für autoritäre Staaten der islamischen Welt oder in Fernost. Das christliche Wertefundament hat erst den Weg zu einer humanen Gesellschaft geebnet (Schilling 2022).


Fünftens: Stoppt den Kult der Gewaltverherrlichung

Gegenwärtig wird unter den westlichen Eliten lediglich über effizientere und schnellere Waffen- und Munitionslieferungen diskutiert, die zum Tode tausender Russen und Ukrainer führen. Der Verfasser hat jüngst, am Rande der MSC 2023, die Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues durch Edward Berger gesehen, worin der Horror von Abnutzungskriegen in kaum erträglicher Weise dargestellt wird. Das Grauen des Krieges als konkretes Bild muß die Entscheidungen maßgeblich beeinflussen.
Ein langfristiges Befriedungskonzept scheint jedoch nicht im Interesse beider Kriegsparteien zu liegen. Die Russen können durch die weltweite Rekrutierung von Söldnern, ermöglicht durch hohe Prämien, den Abnutzungskrieg lange durchhalten. Der Westen hingegen kann als Einheit verbündeter Staaten die Ukraine langfristig zur militärtechnologischen Überlegenheit führen und die Verlängerung des Krieges erzwingen.
Der Politikwissenschaftler Steven van Evera (1999) hat den Ersten Weltkrieg analysiert und sprach vom „cult of the offensive“, einem mentalen Zustand der Eliten, die den Krieg als heroisches Ereignis geradezu herbeisehnten. Gerade Vertreter eines politischen Idealismus, die, wie verschiedene Vertreter der Grünen, noch vor einigen Jahren Soldaten als Mörder bezeichneten, stellen einen kriegerischen Furor zur Schau, der nicht rationalen Lösungslinien folgt. Wie Julian Nida-Rümelin anführt, sind das häufig Vertreter einer jüngeren Generation, die die Bedrohlichkeit des Kalten Krieges nicht mehr vor Augen haben und deshalb den bedingungslosen Sieg des Guten gegen das Böse fordern. Der Umschwung zahlreicher Moralisten vom totalen Pazifismus zu einem radikalen Bellizismus gibt Grund zur Sorge. Denn diese „Zeitenwende“ ist artifizieller Natur und resultiert nicht aus einer gewachsenen strategischen Kultur (Rohde 2022, S. 205).


Sechstens: Nicht von schwächeren Alliierten abhängig machen

So legitim die Forderungen der Ukraine nach Waffenlieferungen sind, so gefährlich ist es, sich diesen Forderungen bedingungslos zu unterwerfen. Zu leicht droht eine Eskalation, wenn sich beispielsweise Deutschland den emotional nachvollziehbaren Forderungen der Ukraine bedingungslos unterordnet. Deshalb will jeder Schritt strategischer Solidarität genau überlegt sein.


Siebtens: Eine Friedensordnung wenigstens zu denken beginnen

In einem lesenswerten Sammelband zu Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg (Nida-Rümelin et al. 2022) fordern zahlreiche renommierte Autoren die Politik dazu auf, über den Tellerrand des gegenwärtigen schrecklichen Kriegsgeschehens in der Ukraine herauszudenken. Julian Nida-Rümelin fordert langfristig die Überwindung gewohnter Welterklärungsmuster: „Eine Friedensordnung nach dem Krieg muß von den Realitäten unterschiedlicher Staatsverfassungen ausgehen und die idealistisch verbrämte expansive Geopolitik der USA und anderer westlicher Länder ebenso beenden wie die zunehmend imperialistische Geopolitik Rußlands und Chinas“ (S. 125).
Für Christen ist das dauerhafte Friedensgebet genauso zu empfehlen wie eine nüchterne Beurteilung des Konflikts sowie die konkrete karitative Hilfe für die vom Konflikt betroffenen Menschen. Sich in den Wunsch nach Rache und Vernichtung des Bösen hineinzusteigern hilft nicht. Denn böser Machtwille und menschliche Selbstgerechtigkeit sind schlechte Ratgeber auf dem Weg zum Frieden. Im Bewußtsein der Relativität menschlicher Gerechtigkeit bleibt nur das Vertrauen auf Gottes Gnade, denn: „Siehe, die Völker sind geachtet wie ein Tropfen am Eimer und wie ein Sandkorn auf der Waage“ (Jesaja 40,15).


Zitierte Literatur

Evera, Stephen van (1999): Causes of War: Power and the Roots of Conflict. Ithaca: Cornell University Press.
Nida-Rümelin, Julian et al. (2022, Hrsg.): Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg. Freiburg i. Br.: Herder.
Rodrik, Dani / Walt, Stephen M. (2022): How to Build a Better Order: Limiting Great Power Rivalry in an Anarchic World. Foreign Affairs, 101, 142.
Rohde, Christoph (2022): Die potenziellen geopolitischen Folgen des Ukraine-Krieges. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 15, 201–220. https://doi.org/10.1007/s12399-022-00922-8
Rohde, Christoph (2021): Das Kreuz und der Krieg. Plädoyer für eine realistische katholische Friedensethik. Rückersdorf: Lepanto.
Schilling, Heinz (2022): Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute. Freiburg i. Br.: Herder.
Schröter, Susanne (2022): Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass. Freiburg i. Br.: Herder.


Abbildung: pixabay.com

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