Die letzte Kränkung? Das Schicksal des Menschen nach der Neuzeit

LOGBUCH LIII (20. November 2023). Von Felix Dirsch


Wer sich intensiver mit der Geistesgeschichte Europas beschäftigt hat, kennt Sigmund Freuds geflügeltes Wort von den drei Kränkungen des neuzeitlichen Menschen: Kopernikus’ und Galileis epochale Einsichten über das neue heliozentrische Weltbild führten, jedenfalls in der Rezeption, zu einem Schaudern vor den unendlichen Räumen des Alls. Das naturwissenschaftliche Wunderkind Blaise Pascal, von den Paradoxien menschlicher Schilfrohr-Existenz umgetrieben, hat ein solches Unbehagen artikuliert, das bis heute nicht mehr verschwunden ist. Und in der Tat: Gemessen an der Einsicht in immer größere Weiten des Kosmos sind die Wirkmöglichkeiten des Menschen kleiner geworden. Daran ändern auch die aufsehenerregenden Weltraumpläne von Superreichen nichts, die bei genauerem Hinsehen die Pascal’sche Dialektik von Größe und Elend des Menschen offenbaren. Der 2018 verstorbene Physiker Stephen Hawking formulierte diesen Widerspruch neu: „Uns auszubreiten ist wahrscheinlich das Einzige, was uns vor uns selbst rettet. Ich bin überzeugt, dass die Menschen die Erde verlassen müssen.“ Daß die Zukunft der Menschheit im Weltraum liege, hat den Status einer Binsenweisheit bekommen, wie der US-Publizist Tim Marshall jüngst in der Abhandlung „Die Geografie der Zukunft“ nochmals herausgestrichen hat.

Man reibt sich verwundert die Augen: War es nicht ein grundsätzliches Anliegen, in Verlängerung einer bestimmten Interpretation des christlichen Schöpfungsauftrages, die Menschen in der Neuzeit zu „Herren und Meistern der Natur“ zu machen, wie es der französische Philosoph René Descartes in einem vielzitierten Diktum auf den Punkt brachte? Er konnte an einige Renaissance-Künstler (wie Leonardo da Vinci) anknüpfen. Diese begeisterten sich für den sogenannten vitruvianischen Menschen, der sein Ebenmaß in den perfektionierten geometrischen Formen von Kreis und Quadrat findet.

Als zweite Kränkung betrachtete es Freud, daß sich der Mensch nach Darwins grundstürzenden Annahmen nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ betrachten könne. Schließlich fungiert er nur noch als Glied einer unabsehbaren Kette von Lebewesen, die – als gleichwohl verschiedene Arten – von einer gemeinsamen Wurzel abstammen. Nicht mehr göttliche Eingriffe, sondern zufällige Mutationen und daraus resultierende Selektionen sind für die menschliche Existenz und ihre Gestalt verantwortlich. Die brutale Immanenz eines solchen rein biologischen Mechanismus war nicht nur für gläubige Menschen ein Schock.

Der unbescheidene Freud ließ es sich nicht nehmen, seine Theorie über das Unbewußte als dritte Kränkung herauszustellen. Demnach ist der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Haus. Sein Bewußtsein ist von dunklen „Es“-Mächten beeinflußt, deren Willkür das gerne als rational angesehene Ich ausgeliefert ist. Auch eine Therapie garantiert nicht die Wiederherstellung der Oberhoheit des Ich.

Es erstaunt nicht, daß Freuds Sichtweise häufig Kritik hervorgerufen hat. Man wollte in Freuds Erkenntnissen keine Depotenzierung des Menschen sehen, sondern eine rational erklärbare Desillusionierung. Offensichtlich schränkt auch der wissenschaftlich fundierte Naturalismus die Möglichkeiten des angeblich so autonomen Subjekts ein – wie einst die Vorstellung vom allmächtigen Gott. Der herkömmliche religiöse Glaube setzte und setzt klare Grenzen für das menschliche Selbstverständnis.

Doch zu Freuds Lebzeiten hatte der eigentliche Trend zur Entmachtung alles Humanen noch nicht einmal richtig begonnen. Die Entdeckungen herausragender Intellektueller der Menschheitsgeschichte – Entdeckungen, die Freud als Kränkungen einstufte – dürfen als Marksteine auf dem langen Weg des menschlichen Geistes betrachtet werden. Der Mensch hat weder das Universum noch die sich evolutionär entwickelnde Natur noch die Funktion des menschlichen Bewußtseins kreiert.

Im Unterschied dazu ist es der eigentümlichen Ambivalenz menschlicher Daseinsgestaltung geschuldet, wenn die größten Wunderwerke humaner Schaffenskraft zu einer Entwicklung führen, an deren absehbarem Ende der „unterlegene Mensch“ steht. Mit diesem Buchtitel charakterisiert der Technikphilosoph Armin Grunwald die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern.

Mittlerweile liegt eine Fülle von Schriften vor, die vor einer massiven Gefährdung der (im 19. und 20. Jahrhundert mühsam errungenen) Freiheit warnen. Stellvertretend sind die Autoren und Autorinnen Yvonne Hofstätter („Das Ende der Demokratie“), Alexandra Borchardt („Mensch 4.0“) und Max Tegmark („Leben 3.0“) anzuführen. Die schöne neue digitale Welt mit allen Bequemlichkeiten und Unterhaltungsmöglichkeiten stößt nicht nur das Tor zur Gefährdung von Demokratie und Freiheitsrechten auf, sondern läßt am Horizont sogar das „Ende des Menschen“ (Francis Fukuyama), wie wir ihn kennen, erscheinen.

Wo sind die Ursprünge dieses Irrwegs der (primär westlichen) Moderne und ihres Ansturms in Richtung einer posthumanen Zukunft auszumachen? Man kann, wie stets bei grundlegenden philosophischen Strömungen, weit zurückgreifen. Bereits Leonardo da Vinci parallelisierte Organismus und Maschine. Im frühen 18. Jahrhundert registrierte man große Prozessionen künstlicher Lebewesen. Diderot nannte menschenähnliche Maschinen „Androiden“. Im engeren Sinn liefen sich aber die Repräsentanten des neuen Zeitalters erst in den 1940er und 1950er Jahren warm.

Zu diesem Zeitpunkt thematisierten mehrere bahnbrechende Publikationen den Umbruch, der sich seither beschleunigt fortsetzt. Die kurze Arbeit von Alan M. Turing („Computing Machinery and Intelligence“) zählt zu den ersten Publikationen, die überhaupt die Frage stellten, ob Maschinen denken können. Turings bahnbrechende Schrift, 1950 in der Zeitschrift „Mind“ veröffentlicht, ist heute noch grundlegend für Theorien des Computers, der Philosophie des Geistes und der Kognition, der Psychologie oder allgemein für Entwicklungen rund um das weite Feld Künstlicher Intelligenz (KI). Die Frage, ob Maschinen denken können, ist heute noch umstritten, obwohl viele sie als längst beantwortet ansehen.

Der epochale Text des Mathematikers Norbert Wiener über die „Menschmaschine“ formuliert eine nachhaltige Destruktion der „alteuropäischen“ Seinshierarchie (wie man mit Luhmann formulieren könnte). In diesem Gefüge steht oben Gott, in der Mitte der Mensch und in gehörigem Abstand das Tier, unten schließlich die anorganische Materie, zu der traditionell auch Maschinen zählen. Grundgedanke der Kybernetik ist die Kontrolle und Steuerung eines Systems. System und Umwelt interagieren auf komplexe Weise miteinander. Dabei spielt es methodisch keine Rolle, ob ein lebendiger Organismus das System bildet oder eine Maschine. Während der ersten industriellen Revolution wird der Arm des Arbeiters durch einen künstlich-maschinellen Mechanismus ersetzt. Im Zuge der zweiten industriellen Revolution wird das menschliche Gehirn zuerst langsam entlastet, später sogar ganz ersetzt.

Hier führt ein direkter Weg zu einem zentralen Gedanken des weltweit gefeierten Werkes des israelischen Historikers und Transhumanisten Yuval Noah Harari. Im „Homo Deus“ (2015) reißt die Datenreligion die Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Maschinen ein. Der biochemische Algorithmus, der etwa für menschliche Gedanken verantwortlich ist, wird nach und nach entschlüsselt, ebenso wie der elektronische. Personalität und eine ausgezeichnete Humanität gelten demnach als Fiktion. Besondere Rechte sind nicht mehr zu begründen. Harari ist erfrischend ehrlich: „Der Dataismus ist weder liberal noch humanistisch. Er ist deshalb freilich keineswegs antihumanistisch. Er hat nichts gegen menschliche Erfahrungen. Er glaubt nur nicht, daß sie für sich genommen einen Wert haben.“

Aufmerksam wurden viele Zeitgenossen auf die neue Überlegenheit des Rechners durch den Sieg des IBM-Computers „Deep Blue“ 1997 über den Schachgroßmeister Viktor Kasparow. 2016 verlor der Go-Großmeister Lee Sedol gegen den Google-Algorithmus „AlphaGo“. Ein Menetekel für die Menschheit? Manche sehen es so.

Natürlich kann man Repräsentanten des Trans- und Posthumanismus wie Ray Kurzweil, Yuval Noah Harari und Nick Bostrom als „ausgeflippte Intellektuelle“ bezeichnen, wie Jürgen Habermas in seinem Buch über die „Zukunft der menschlichen Natur“. Eine solche Ridikülisierung übersieht indessen die tief verwurzelten methodisch-antihumanistischen Grundtendenzen der Gesamtkultur. Sie machten sich sogar auf dem Feld der Sozialwissenschaft zu einer Zeit bemerkbar, als diese Disziplin noch weltbildformende Funktionen erfüllte. Friedrich H. Tenbrucks Studie über „Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen“ (1984) ist noch über vierzig Jahre nach ihrer Erstpublikation erhellend.

Wirft man aus heutiger Sicht einen Blick in die Zukunft, so erkennt man eine drastische Relativierung des Menschen als „Informationswesen“, als das ihn die Kybernetik stets in den Blick genommen hat. Der Mensch fristet seine Existenz als „Atom im Internet der Dinge“ (Hofstätter). Mittels des Smartphones werden um 2030 rund sechs Milliarden Menschen untereinander und im Kontext von ungefähr hundert Milliarden Gegenständen vernetzt sein. Der personale Charakter des Menschen, ohnehin von dominanten Strömungen der Moderne wie dem Utilitarismus negiert, dürfte vor diesem Hintergrund weiter an Bedeutung verlieren.

Über Antidota zu diesen Tendenzen liegen unterschiedliche Auffassungen vor. Es fehlt in der Gegenwart nicht an großangelegten Versuchen der „Verteidigung des Menschen“. Exemplarisch sind der Journalist Jan Roß und der Psychiater Thomas Fuchs anzuführen. Beide sehen die „Zeit des Menschen“ (Raimar Zons) noch nicht als beendet an. Fuchs betont die konkrete leibliche Existenz als Leitidee einer humanistischen Perspektive. Es kann offenbleiben, ob diese Sicht ausreicht.

 

Der Transhumanismus war bereits mehrfach Thema im LOGBUCH:

Susanne Hartfiel über Transhumanismus: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Homo Deus – Selbstvergottung und transhumanistische Nebenfolgen



Prof. Dr. Felix Dirsch, katholischer Theologe, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrt politische Wissenschaften an der Universität Gyumri (Armenien) und hat zuletzt im Juni 2023 den ersten Band seines Opus magnum Logiken des Wandels über „Entwicklungslinien technischer, politischer und ökonomischer Rationalität“ im Verlagshaus Schlosser publiziert.


Abbildung: pexels.com

 

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