Steuern wir in eine Technokratie? Gedanken von C. S. Lewis zu einem aktuellen Thema (1)

LOGBUCH XXXII (26. August 2022). Von Norbert Feinendegen

Der Oxforder Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Philosoph C. S. Lewis (1898–1963) wurde zusammen mit vier anderen Schriftstellern 1958 von der britischen Sonntagszeitung The Observer gebeten, seine Meinung zu der Frage „Macht die Menschheit heute Fortschritte?“ kund zu tun. Die Frage war motiviert durch die damalige Ungewißheit, wohin die Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steuern würde. Zu den Dingen, über die man diskutierte, gehörten die Bedrohung durch das atomare Wettrüsten des Kalten Krieges, das Problem der Versorgung einer stark wachsenden globalen Bevölkerung mit Nahrung und Medizin sowie die drohende zukünftige Unbewohnbarkeit der Erde infolge von Überbevölkerung und Umweltzerstörung.

Lewis hielt zwar Fortschritte in einzelnen dieser Bereiche für möglich, er glaubte aber nicht, daß man damit bereits von einem generellen Fortschritt der Menschheit sprechen könne. Fortschritt bedeutet für ihn, daß sich das Leben konkreter, individueller Menschen in moralischer, materieller, sozialer oder gesundheitlicher Hinsicht verbessert. Technische Entwicklungen, die bei einem Großteil der Bevölkerung gar nicht ankommen, oder Prozesse, von denen einige profitieren, die aber zu Lasten anderer gehen, lassen sich nach seiner Ansicht unmöglich als Fortschritte bezeichnen. Er befürchtete, daß das, was ihm und seinen Zeitgenossen als „Fortschritt der Menschheit“ angepriesen wurde, den meisten Menschen gar nicht zugute kommen, sondern sie in Wahrheit zu „gefügigen Sklaven des Wohlfahrtsstaats“ machen würde (so der Titel seines Essays).[1]

Lewis nennt in seinem geradezu prophetisch anmutenden Beitrag zwei Aspekte, an denen sich nach seiner Ansicht das Schicksal der Menschheit entscheiden wird – beides Aspekte, die heute, gut 60 Jahre später, aktueller denn je sind. Der erste Aspekt ist der Fortgang der naturwissenschaftlichen Forschung und der damit verbundenen technischen Innovationen. Die durch sie gewonnenen Möglichkeiten nennt er insofern neutral, als es von uns Menschen abhängt, wie sie zum Einsatz kommen: Wir können sie nutzen, um Krankheiten zu heilen, diese aber auch (absichtlich oder unabsichtlich) produzieren; wir können sparsamer mit den Ressourcen der Erde umgehen, sie aber auch immer mehr ausbeuten. Lewis ging davon aus, daß beides passieren wird: der Einsatz neuer Techniken wird an einigen Stellen zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen führen, an anderen Stellen werden dadurch aber auch neue Mißstände entstehen. Wir haben daher weder Anlaß zu einem dystopischen Pessimismus noch zu einem naiven Optimismus; entscheidend ist, wie wir von unseren neuen Erkenntnissen und Fertigkeiten Gebrauch machen (137).

Die Ambivalenz unseres Umgangs mit technischen Innovationen sehen wir heute um einiges klarer, als dies in der Mitte des 20. Jahrhunderts allgemein der Fall war: Windkraft kann helfen, unsere Energieprobleme zu lösen, für den Bau weiterer Windkraftanlagen werden aber ganze Wälder gerodet; die globale Vernetzung, die es uns ermöglicht, Waren aus der ganzen Welt zu beziehen, hat uns in Abhängigkeiten getrieben, deren Umfang uns erst jetzt richtig bewußt wird; wir können innerhalb von Stunden an nahezu jeden Ort der Welt gelangen, von dort aber auch gefährliche Krankheiten bei uns einschleppen. Nichts von diesen Dingen ist naturgegeben; es sind Handlungen von uns Menschen, die diese Folgen haben. Der Fortschritt der letzten Jahrzehnte stellt sich somit als Fluch und Segen heraus: Technik ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Lösungen, aber auch eine Ursache zahlreicher unserer Probleme.

Ob jemand die Veränderungen, die wir mit den heutigen Möglichkeiten herbeiführen, als Fluch oder Segen betrachtet, hängt dabei davon ab, was man als erstrebenswert erachtet, was man also unter einem guten und gelingenden Leben versteht. Es ist daher von größter Relevanz, wer darüber entscheidet, was von dem heute technisch Möglichen verwirklicht wird und nach welchen Kriterien die jeweiligen Akteure ihre Entscheidungen treffen.

Dies führt uns zu Lewis’ zweitem Aspekt, einem gewandelten Verhältnis zwischen der Regierung eines Staates und der von ihrem Handeln betroffenen Bevölkerung. Nach klassischem Staatsverständnis war es Aufgabe des Staates, die Rechte seiner Bürger vor Übergriffen anderer zu schützen; als Leitlinien standen ihm dafür das Naturrecht, die Lehre vom Wert des Individuums und die Menschenrechte zur Verfügung. Das Ziel lautete, dem einzelnen Bürger ein Maximum an Freiheit zu gewähren, ohne daß dies mit der Freiheit oder den legitimen Interessen anderer in Konflikt geriet. Die Regierung sollte die Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben angstfrei und in Sicherheit nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, sich dabei aber so wenig wie möglich in deren Leben einmischen.

Dieses Verständnis des Staates, das auch den westlichen Demokratien zugrunde liegt, wurde zwar nie offiziell widerrufen, es spielt aber nach Lewis’ Einschätzung in der politischen Praxis eine immer geringere Rolle. Zwei Weltkriege hatten im 20. Jahrhundert teilweise enorme Einschränkungen der individuellen Freiheit erforderlich gemacht und die Menschen hatten sich (wer denkt da nicht an die Pandemie-Beschränkungen der letzten Jahre?) an ihre Ketten gewöhnt. Die zunehmende Komplexität im wirtschaftlichen Bereich (Lewis schreibt dies Jahrzehnte vor allen EU-Debatten) hatte zudem eine Flut von Bestimmungen zur Folge, in denen immer mehr Dinge per Regierungsentscheidung geregelt wurden, die zuvor dem Ermessen des Einzelnen anheim gegeben waren. Da in den westlichen Staaten viele Intellektuelle politisch dem Sozialismus nahe standen, entsprachen diese staatlich gelenkten Prozesse auch der vorherrschenden Ideologie (138).

Lewis vermutet deshalb, die meisten seiner Mitbürger seien inzwischen der Meinung, der Staat sei nicht in erster Linie dazu da, die Rechte seiner Bürger zu schützen, sondern ihnen Gutes zu tun oder sie sogar gut zu machen – auf jeden Fall, um etwas an oder mit ihnen zu machen. Nach ihrem Verständnis sind wir zwar nicht die Untertanen derer, die über uns herrschen, aber doch „ihre Schützlinge[2], Schüler oder Haustiere. In keinem Bereich haben wir mehr die Souveränität, sagen zu können: ‚Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten.‘ Unser ganzes Dasein ist ja ihre Angelegenheit“ (138f.).

Damit sind wir bei der Frage, wer denn diejenigen sind, die hier unser Wohl als Staatsbürger zu ihrer Angelegenheit machen, und von welchen Prinzipien sie sich in ihrem Handeln leiten lassen. Für Lewis steht außer Frage, daß „jede konkrete Regierung immer und unweigerlich oligarchisch ist“ (139). Wir wählen zwar unsere Interessenvertreter, diese vertreten aber oft genug gar nicht unsere Interessen, sondern meinen, selbst zu wissen, was für uns das Beste ist. Wenn der Staat für uns planen und sorgen soll, dann muß die Regierung natürlich wissen, was unser Bestes ist. Von wem aber erhalten die Regierenden ihre Kenntnis dessen, was gut oder schlecht für uns ist, wenn nicht von uns, ihren Wählern? Lewis’ Antwort: von ihren wissenschaftlichen Beratern. Sie sind es in Wahrheit, die einen Großteil der Politik bestimmen. Je mehr eine Regierung meint, sich um das Wohl ihrer Bürger kümmern zu müssen (anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese das selbst tun können), umso größer wird ihre Abhängigkeit von ihren Beratern, und umso mehr mutiert der Staat zu einer Technokratie.

Lewis ist natürlich nicht dagegen, daß sich eine Regierung wissenschaftlichen Rat einholt; es wäre unverantwortlich, dies bei schwierigen und weitreichenden Entscheidungen nicht zu tun. Die Ratschläge der Regierungsberater gelten jedoch keineswegs nur ihrem wissenschaftlichen Kernbereich (sie äußern sich also nicht nur zu Fragen, in denen sie tatsächlich Experten sind), sondern erstrecken sich nur allzu häufig auf die Ziele der Regierungspolitik selbst, nicht zuletzt in gesundheitspolitischen Fragen. Hier auf sie zu hören – was oft genug geschieht – hält Lewis für einen gravierenden Fehler: „Ein Arzt kann mir meinetwegen sagen, daß ich sterben werde, wenn ich nicht das und das tue; ob aber das Leben unter diesen Bedingungen noch lebenswert ist, das ist eine Frage, über die er kein bißchen mehr weiß als irgendein anderer“ (140).

Der Eindruck, daß der Meinung von Experten hier zu viel Gewicht beigemessen wird, drängte sich in den vergangenen beiden Jahren auch bei mancher Pandemie-Maßnahme auf, zum Beispiel bei der Zwangsisolation demenzkranker oder sterbender Menschen. War das, was die Regierung hier zum Schutz vulnerabler Personen angeordnet (und mit aller Härte durchgesetzt) hat, wirklich zu ihrem Besten? Wäre es nicht besser – und der Würde der betroffenen Personen angemessener – gewesen, sie selbst entscheiden zu lassen, was sie als unverzichtbar für ihr Leben erachten, auch um den Preis einer erhöhten Infektionsgefahr?

Was Lewis ganz besonders kritisiert, ist die Alternativlosigkeit, die solchen vermeintlich wissenschaftlich erforderlichen Maßnahmen zugeschrieben wird. In politischen Fragen gibt es immer auch Alternativen, je nachdem, welche Prioritäten man setzt und an welchem Menschenbild man sich bei seinen Entscheidungen orientiert. Die Behauptung, eine bestimmte Maßnahme (oder ein Bündel von Maßnahmen wie zum Beispiel eine No-COVID-Strategie) sei alternativlos, weil von Experten gefordert – im religiösen Bereich: weil Gott es so will –, ist nach Lewis’ Überzeugung immer eine Lüge. Und die Verteufelung oder Unterdrückung abweichender Meinungen ist kein Zeichen von Wissenschaftlichkeit, sondern von staatlicher Willkür. Eine Ideologie, „die von den Herrschenden mit der Kraft einer Religion vertreten wird, ist ein schlechtes Zeichen. Sie verbietet diesen nicht weniger als dem Inquisitor, irgendein Korn der Wahrheit oder Güte bei ihren Gegnern anzuerkennen; sie hebt die gewöhnlichen ethischen Prinzipien auf und stattet all jene gewöhnlichen menschlichen Leidenschaften, von denen die Herrschenden (wie jeder andere Mensch) häufig angetrieben werden, mit einer hohen, quasi übermenschlichen Rechtfertigung aus. Mit einem Wort, sie verbietet gesunden Zweifel. Ein politisches Programm kann nie mehr als wahrscheinlich richtig sein.“[3]


[1] C. S. Lewis, „Gefügige Sklaven des Wohlfahrtsstaats“, in: ders., Gültiges und Endgültiges. Essays zu zeitgemäßen und unzeitgemäßen Fragen, hrsg. von Walter Hooper, Brunnen Verlag, Basel und Gießen 1992, 135142. Die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf diesen Text. Online ist der Text hier verfügbar: https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/der-mensch-als-gefuegiger-sklave-des-wohlfahrtsstaats/

[2] Der von Lewis verwendete Ausdruck „ward“ (Mündel) wird hier etwas unglücklich mit „Schützling“ übersetzt. Worauf es ihm ankommt, ist die Tatsache, daß ein Mündel unter der Vormundschaft seines Betreuers steht und somit nicht selbst über sein Leben bestimmen kann.

[3] C. S. Lewis, „Eine Replik auf Professor Haldane“, in: ders., Durchblicke. Texte zu Fragen über Glauben, Kultur und Literatur, hrsg. von Norbert Feinendegen, Fontis Verlag, Basel 2019, 370.



Dr. Norbert Feinendegen, Jahrgang 1968, studierte Philosophie und Theologie und promovierte 2007 in Theologie über C. S. Lewis („Denk-Weg zu Christus. C. S. Lewis als kritischer Denker der Moderne“). Feinendegen ist freier Autor und Referent in der Erwachsenenbildung sowie Übersetzer und Mitherausgeber von Schriften von C. S. Lewis. Siehe auch: https://www.lepanto-verlag.de/durchblicke-auf-c.-s.-lewis.-glauben-kultur

 

Abbildung: pixabay.com

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