LOGBUCH LVII (18. Februar 2024). Von Daniel Zöllner
Das Haus und das Lamm ist der vierte Prosaband aus der Feder Christian Lehnerts. Das Buch ist aus zwei Textsträngen geflochten: In vierzehn mit „Das Haus“ betitelten Abschnitten berichtet ein Ich-Erzähler über seinen Aufenthalt in einem einsamen, baufälligen Haus im Erzgebirge, über seine Erfahrungen mit dem Alleinsein, mit den Arbeiten am Gebäude, mit den Tieren und Pflanzen und mit der Sterblichkeit aller Wesen. Jedem dieser Berichte sind unter dem Titel „Das Lamm“ Reflexionen über ausgewählte Textabschnitte der Johannesapokalypse zur Seite gestellt. Darin greift Lehnert auf Zitate zurück und nähert sich der Form des Essays. Zwischen den beiden Textsträngen ergibt sich ein reizvolles Wechselspiel, das niemals eindeutig auf den Begriff zu bringen ist. Gelegentlich wird in den essayistischen Abschnitten ebenfalls erzählt, wie auch umgekehrt der Ich-Erzähler häufig theoretische Reflexionen in seine Berichte einstreut.
Indem er die Grenzen zwischen Essay und Erzählung verwischt und die Textgenres vermischt, versucht Lehnert dem Charakter der Johannesapokalypse gerecht zu werden, die er als „Schwellentext“ bezeichnet – zwischen Abschied und Neubeginn, Ende und Anfang, Gericht und Erlösung. Als Symbol der Schwellensituation interpretiert Lehnert die Tür aus Offenbarung 4,1, durch die der Seher Johannes einen Blick in den Himmel werfen kann. Die menschliche Sprache selbst erscheint in der Johannesapokalypse nach Lehnert als „Tür zum Unsagbaren“.
Das alte, krumme und schiefe, an vielen Stellen undichte und nur provisorisch reparierte Haus, in dem der Ich-Erzähler allein wohnt, erweist sich im Verlauf des Buches als Metapher für die notdürftige metaphysische Behausung des Erzählers. Was Georg Lukács die „metaphysische Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen genannt hat, wird hier sinnfällig. Der Ich-Erzähler konstatiert: Moderne Technik, insbesondere die Medizin, müsse heute anstelle des christlichen Glaubens metaphysische und religiöse Bedürfnisse befriedigen, bis hin zum eschatologischen Erlösungsprojekt des Transhumanismus. Die Transhumanisten bilden „die spirituelle Vorhut einer designten Entgrenzung, einer gar den Tod überwindenden, futuristisch schicken Erlösung“.
Aber noch diese ersatzreligiöse Denkweise, die „Religion“ des Fortschritts, hat nach Lehnert eine Wurzel im apokalyptischen Denken des letzten biblischen Buches – einem Denken, „das erst den Zeitstrahl auszog von einem Anfang zu einem Ende hin, und dies konnte als Entwicklung oder Verfall verstanden werden, aber es brach und bog doch den Kreis der Jahreszeiten und die zyklische Folge der Generationen auf zu einer Linie“. So liest Lehnert die Johannesapokalypse als eine Schrift, die „wie kaum eine andere das europäische Verständnis von Geschichte, vom Wesen der Zeit und den Erscheinungsweisen Gottes in ihr prägte“.
Daß der gegenwärtige geschichtliche Augenblick, genauso wie in der Johannesapokalypse beschrieben, als eine entscheidende „Krise“ gedeutet werden müsse – dies ist ein Gedanke, der die europäische Geistesgeschichte durchzieht. In der „krisis“ (griechisch für Entscheidung oder Gerichtsverfahren) steht das Geschehen auf des Messers Schneide. Lehnert zeigt diese Denkfigur anhand konkreter Beispiele: Jetzt, hier und heute, ereignet sich für Thomas Müntzer im 16. Jahrhundert, für die Revolutionäre von 1789 ebenso wie für Rosa Luxemburg im 20. Jahrhundert die entscheidende Krise, der Augenblick einer Entscheidung zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse, in der sich das Neue revolutionär verwirklichen läßt.
Gemäß der geschichtsphilosophischen Konstruktion des Apokalyptikers Joachim von Fiore folgt auf das Zeitalter des Vaters und des Sohnes ein „drittes Zeitalter“ des Geistes. Eine vergleichbare Erwartung hallt in zunehmend säkularisierter Form noch nach im Denken von Hegel und Marx. Apokalyptisches Denken dieser Art drängt voran in die Zukunft. Zugleich spricht aus ihm, so Lehnert, eine tiefe „Geborgenheitssehnsucht“. Denn es ist ein Versuch, die „metaphysische Obdachlosigkeit“, die ja nicht nur der moderne Mensch kennt, in einem genau durchdachten geschichtsphilosophischen Gehäuse hinter sich zu lassen.
Demgegenüber versucht Lehnert die Johannesapokalypse als Dokument einer Erwartung zu verstehen, einer Erwartung, die in ihrer drängenden Bewegung über die Welt und deren Vergänglichkeit, Leid und Enge hinausweist. Diese Erwartung wird nur verstehen, wer das Leiden an der Vergänglichkeit mit einer Intensität empfindet, die ihn über das Gegebene hinaustreibt. Vergänglichkeit und Leid werden vom Ich-Erzähler in den berichtenden Passagen stellenweise drastisch dargestellt: Da sind die Überreste eines vermutlich totgeborenen, von Maden zerfressenen Rehkitzes, vom Hund des Erzählers entdeckt, da ist die tote, von Würmern und Schnecken bevölkerte Schermaus, und da sind die Krähen, die sich auf eine halbtote, angefahrene Katze stürzen.
Diese Vorgänge und Erscheinungen aus dem Tierreich sind nicht mit moralischen Kategorien zu bewerten, aber sie führen den Ich-Erzähler zu der Frage: Ist die bekannte körperliche Existenz, besonders die Existenz der menschlichen Person, nur „Vorform einer Verwandlung“, „Hinweis wie ein Schriftzug auf einen zu sprechenden Satz“? Das „Fleisch“, so der biblische Ausdruck für die der Vergänglichkeit unterworfene Schöpfung, wäre also nur ein Durchgang?
Lehnert ist der Ansicht, daß sich diese Fragen niemals völlig eindeutig beantworten lassen. Nur in der Bewegung des Transzendierens, in einem „Darüberhinaus“, auch in der Haltung des Abschiednehmens von der Welt, lassen sie sich stellen und läßt sich eine Antwort eher erahnen als letztgültig geben. Das wird etwa deutlich in dem Bericht von einer Begegnung mit einem Kranken, der nur die Wahl hat zwischen dem Dahindämmern mit Morphium im Blut und schrecklichen Schmerzen. Was läßt sich auf sein Leiden antworten, hat es einen Sinn? Der Erzähler erwägt mehrere Antworten, doch keine scheint ihn völlig zu befriedigen, und so schweigt er zunächst. Doch nach längerem Nachdenken zitiert er laut die Passage aus dem 21. Kapitel der Johannesoffenbarung, in dem der „neue Himmel“ und die „neue Erde“ geschaut werden. Ob dieses Zitat den Kranken zufriedenstellt, bleibt unklar, denn dieser ist inzwischen wieder vom Morphium betäubt. Es scheint, als habe der Erzähler die Passage nicht zuletzt auf der Flucht vor sich selbst, der eigenen Reflexion und dem Leid des Kranken gesprochen.
So beschließt Lehnert sein Buch mit einem weiteren Zitat aus der Johannesapokalypse, das unkommentiert stehen bleibt: „Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald. Amen, komm Herr Jesus!“ (Offenbarung 20,20) Wie kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart versteht es Lehnert, hinüberzuleiten in die Erwartung, in der sich Eindeutigkeiten und Sicherheiten auflösen und die Hoffnung auf das apokalyptische „neue Jerusalem“ wach wird. Dabei wird aber auch deutlich, daß diese Hoffnung sozusagen wilder, riskanter und gefährlicher ist, als es ein heute weitverbreitetes „Wohlfühlchristentum“ wahrhaben möchte – und daß die „Gewißheit“ dieser Hoffnung nur jenseits aller irdischen Gewißheiten zu haben ist.
Christian Lehnert: Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes. Berlin: Suhrkamp 2023.
Siehe auch die älteren LOGBUCH-Einträge:
Das Gedicht als Gebet. Zu Gedichten Christian Lehnerts
Im Zwischenreich: Christian Lehnert über die Verwandtschaft von Religion und Poesie
Abbildung: Albrecht Dürer: Die Fesselung des Drachen und das Neue Jerusalem (1498), Holzschnitt aus dem Druckwerk Die heimlich offenbarung iohannis (Wikimedia Commons)