Im Zwischenreich: Christian Lehnert über die Verwandtschaft von Religion und Poesie

LOGBUCH XLVIII (14. Juni 2023). Von Daniel Zöllner


Im Herder-Verlag sind die Poetik-Vorlesungen erschienen, die der evangelische Theologe und Lyriker Christian Lehnert im Sommersemester 2022 in Wien gehalten hat. Neben den vier Vorlesungen Lehnerts enthält das Buch ein Vorwort von Jan-Heiner Tück und ein Nachwort von Sebastian Kleinschmidt. Der Titel Die weggeworfene Leiter spielt auf Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus an. Dort werden die Sätze mit einer Leiter verglichen und es heißt, der Leser müsse „sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist“. Die Sprache wird hier verstanden als Übergang zwischen Hier und Dort und ist demzufolge ein über sich hinausweisendes, zwangsläufig mangelhaftes Hilfsmittel, um das Unbekannte zu sondieren. Es ist dieses Sprachverständnis, das für Christian Lehnert die Sprache der Religion mit der Sprache der Poesie verbindet. Beide Sprachformen lassen sich verstehen als „viatorisches“, also „pilgerndes Sprechen“ im Übergang.

Der folgende Gedanke durchzieht Lehnerts Poetik-Vorlesungen: Der Mensch atmet nicht nur mit der Lunge, er ist Atem mit seiner ganzen Existenz, ein Pulsieren zwischen Hier und Dort, Beheimatung und Überschreitung. Lehnert schreibt: „Weder außen, noch innen kommt der Mensch zur Ruhe, er ist zwischendrin, ein Dämmerungsbewohner.“ Der Mensch bewegt sich also im Zwischen, auf der Schwelle, im Werden, und so gehört die Sprache von Religion und Poesie zum vollen Menschsein unabdingbar dazu.

In einem Gedicht aus dem Zyklus „passio“ hat Lehnert einen sozusagen aphoristischen Satz geprägt, den er auch in den Vorlesungen zitiert und kommentiert: „Nur durch die Sprache wird die Sprache überwunden.“ Da wir nun einmal sprechen, können wir nicht einfach zurückfallen in Sprachlosigkeit. Wir können nur durch die Sprache hindurch über die Sprache hinaus in die Nähe des Unsagbaren gelangen. In einem anderen Gedicht aus dem Zyklus „passio“ heißt es: „Die Wörter reichen ins Schweigen hinein.“

Wer die Bücher Lehnerts gelesen hat, dem sind diese Gedanken bis in die Formulierungen hinein wohlvertraut. Aus seinen früheren Prosabänden hat Lehnert stellenweise ganze Passagen übernommen, und auch aus seinen Gedichtbänden zitiert er immer wieder. Es ergibt sich so gewissermaßen ein Lehnert-Medley, und der Wiedererkennungswert hat einen eigenen Reiz, auch wenn man sich gelegentlich doch etwas mehr Neues erhofft hatte.

Die erste der vier Vorlesungen des Buches entfaltet eine religiöse Sprachlehre. Hier kommt Lehnert auf die Engel zu sprechen, die für ihn „Grenzbewohner“ sind – wie die Sprachformen des Gebets und des Gedichts. Schon in dem Buch Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten (2020) hatte Lehnert dieses Verständnis der Engel ausführlich dargestellt, und so greift er auch auf Passagen daraus zurück. Die Engel werden bestimmt als Bewegung des Transzendierens; ähnlich ist auch die genuin religiöse Sprache nie ganz bei sich zu Hause, sie weist ständig hinaus über das, was sie sagt, ins Unsagbare.

Die zweite Vorlesung handelt vom Kreuz Christi, das Lehnert auslegt als „Verlöschen der Sprache im Herzen des Christentums“. Hier übernimmt der Dichter Passagen aus seinem ersten Prosaband Korinthische Brocken (2013), in dem er darüber, ausgehend von den paulinischen Aussagen über das „Wort vom Kreuz“ und dessen Anstößigkeit, reflektiert hatte. Das Kreuzesopfer Jesu sei eine Opferung der Religion und der Sprache und damit Gottes, des Logos, selbst. „Dieser Abbruch, das Grauen eines leeren Alls, nimmt genau die Stelle des blutenden Tieres ein, das buchstäblich leerläuft, dessen Lebenssaft verrinnt. So blutet die Sprache aus, und getötet wird der Gott selbst als vorstellbarer, sagbarer, zu glaubender Gott.“ Diesem Opfer können wir uns als moderne Menschen besonders nah fühlen: „Martyrium erscheint heute als schmerzliche Aufgabe von Sicherheiten und von Überzeugungen“ – wenn der Glaube an Christus zu einer Weltanschauungs-Option unter unzähligen anderen zu werden scheint.

Die dritte Vorlesung betrachtet „Sprache als Schöpfungsgestalt“, sie thematisiert die schöpferische Kraft des dichterischen und religiösen Wortes. Anhand eines eigenen Gedichtes über eine Libelle zeigt Lehnert, wie Sprache das Abwesende herbeirufen kann. Mit Luther sieht Lehnert den Menschen nicht nur als „vernünftiges Lebewesen“, sondern auch als „cor fingens“, als „erdichtendes Herz“. Lehnert bekennt: Ähnlich wie in der DDR, in der er aufgewachsen ist, habe er heute wieder „das Gefühl, daß das ‚cor fingens‘, der Freiheitsraum des schöpferischen Menschen und seine Engelsnähe verteidigt werden muß. … Vor allem wohl gegen eine plumpe Macht der Fakten, gegen einen einseitigen Wissenschaftspositivismus, der sich mit Machtinteressen und Oligarchentum auch in unserem Land verquickt.“

Die vierte und letzte Vorlesung stellt das Atmen ins Zentrum, das, wie bereits erwähnt, als Symbol der menschlichen, ja der kreatürlichen Existenz schlechthin erscheint. Die eigentlichen Lebensräume des Menschen seien nicht die binären Codes des Digitalen in ihrer Eindeutigkeit, ihrem Entweder-Oder, sondern das Pulsierende und Ambivalente, „die Dämmerung, das Hell- oder Dunkelwerden, das Dösen im Halbschlaf, das Zwielicht der Verführung, der langsame Weg der Erkenntnis“, kurz ein „Dämmerzustand, der gefährlich auf der Kippe steht.“ Hier haben besonders Religion und Poesie ihren Ort.

Das Vorwort des Wiener Dogmatikers Jan-Heiner Tück weiß Lehnerts dichterische Praxis und Sprachreflexion kundig einzuordnen. Tück hebt besonders die Bedeutung der negativen Theologie des Dionysios Areopagita hervor sowie die Formel des Vierten Laterankonzils von 1215, der zufolge Gott bei jeder noch so großen Ähnlichkeit mit dem Geschöpf eine noch größere Unähnlichkeit aufweist.

Von Lehnert geht eine stete Beunruhigung aus, indem er (wie Thomas von Aquin) daran erinnert, daß Gott immer größer ist als unser Nachdenken und Sprechen über ihn („Deus semper maior“). Für katholische Ohren ist diese Beunruhigung unbequem, scheint es doch zuweilen, als würden in einer mystischen Erschütterung alle Dogmen und Lehrentscheidungen brüchig und rissig. Doch vielleicht ist gerade dieser „Stachel im Fleisch“ immer wieder nötig, wenn die Versuchung zunimmt, als Heimat anzusehen, was im „status viatoris“ des irdischen Menschen immer nur ein Provisorium sein kann.

Christian Lehnert: Die weggeworfene Leiter. Gedanken über Religion und Poesie (= Poetikdozentur Literatur und Religion, Band 7). Freiburg i. Br.: Herder 2023. 108 S. 25 €.


Abbildung: pexels.com

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