Eine trinitarische Ontologie als Ansatz zur Erneuerung des abendländischen Denkens

LOGBUCH XLIV (3. April 2023). Von Daniel Zöllner

 

„Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo.“ („Du aber warst noch innerer als mein Innerstes und höher noch als mein Höchstes.“ Augustinus: Confessiones III, 6, 11; Übersetzung von Joseph Bernhart)


In meinen Überlegungen zu Josef Piepers Bestimmung der abendländischen Kultur (im Lepanto-Almanach 2022 und in Kurzfassung auch im LOGBUCH) habe ich herausgestellt, daß das Lebenselement abendländischen Denkens die Spannung zwischen der Vernunft und der Offenbarung ist. Die Weltlichkeit wird von einem „überweltlichen Anspruch“ beunruhigt, herausgefordert, über sich hinaus geführt – wie auch umgekehrt die christliche Religion der Auseinandersetzung mit der forschenden weltlichen Vernunft nicht ausweicht, sondern mit ihr in eine spannungsvolle „Zweieinigkeit“ tritt. Man kann demnach die Grundstruktur des abendländischen Geistes mit Pieper auf die folgende Formel bringen: „theologisch gegründete Weltlichkeit“. Das Abendland lebt weder allein aus der Vernunft noch allein aus dem Glauben, sondern aus dem „Zwischen“ von Glaube und Vernunft.

In Piepers Werk Überlieferung. Begriff und Anspruch (1970) lassen sich hierzu einige wichtige Ergänzungen finden. Pieper zeigt am Beispiel Indiens, daß die religiöse Überlieferung steril und unlebendig wird, wo ihr der Bezug auf die Vernunft fehlt oder verloren geht: „An indischen Universitäten […] habe ich viele Male im Gespräch mit Professoren des Sanscrit-Department, das etwa unserer theologischen Fakultät entspricht, die Erfahrung gemacht, daß man dort weder eine Möglichkeit noch eine Notwendigkeit sieht, die religiöse Tradition des Hinduismus mit der an den gleichen Universitäten gelehrten modernen Naturwissenschaften überhaupt zu konfrontieren. Die unausbleibliche Folge ist einerseits das Sterilwerden des ständig nur wiederholten und kultisch rezitierten Überlieferungsbestandes, andererseits das Im-Stich-Gelassenwerden der jungen Generation, die auf solche Weise die Verbindung zum eigenen geistigen Ursprung verliert.“[1]

Pieper weist darauf hin, daß sich das europäische Denken bis in die Gegenwart hinein nicht ohne den Bezug auf die heilige Überlieferung des Christentums verstehen läßt. Das gilt selbst noch für den atheistischen Existenzialismus: Jean-Paul Sartre gründet „seine Philosophie ausdrücklich auf den Glaubenssatz von der Nicht-Existenz Gottes […]. Die kontrapunktische Zuordnung des Gewußten zum Geglaubten ist also, rein formal gesehen, durchaus gewahrt.“[2] Für Angehörige von Kulturen, die nicht in der lebendigen Überlieferung des christlichen Glaubens stehen (Pieper nennt japanische Philosophieprofessoren als Beispiel), sei daher ein tieferes Verständnis der europäischen Philosophie nahezu unmöglich – jedenfalls sofern nicht nur historische Gelehrsamkeit gefordert ist, sondern eine eigenständige Erörterung von Sachproblemen: „[W]enn man versucht, mit solchen Experten Sachprobleme zu diskutieren […], dann zeigt sich bald, trotz aller enormen Versiertheit im Gebrauch der westlichen Terminologie, eine fast unheimlich wirkende Abgeschnittenheit, so etwas wie die künstliche Lebendigkeit von Marionetten.“[3]

Leider trifft diese Diagnose auch auf eine wachsende Anzahl von europäischen Philosophen zu, da ja im Abendland der lebendige Bezug auf die heilige Überlieferung – der selbst bei Sartre im Sinne einer Negation noch gewahrt blieb – mehr und mehr verloren geht. Dem abendländischen Denken droht ein Sterilwerden, indem die Vernunft sich abschneidet von dem befruchtenden Einfluß der Offenbarung, die in der heiligen Überlieferung weitergegeben wird. Damit wird aber auch die gesamte „weltliche“ Tradition Europas (nicht nur die Philosophie, sondern beispielsweise auch die Kunst) für nachkommende Generationen zunehmend unzugänglich und unverständlich. Meiner Ansicht nach hat das abendländische Denken nur dann eine Zukunft, wenn es sich – in stetiger Rückbesinnung auf die Tradition, besonders auf die heilige Überlieferung des Christentums – radikal erneuert. Der Keim zu einer radikalen Erneuerung liegt, wie ich meine, in dem Ansatz einer trinitarischen Ontologie.


Eine trinitarische Ontologie als Sehnsucht des abendländischen Denkens

Die Begegnung des christlichen Glaubens mit den Inhalten und Denkformen der hellenistischen Philosophie hatte eine entscheidende Bedeutung für das Abendland. Hierin liegen die ersten Keime des Gesprächs zwischen Glaube und Vernunft – und damit der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ des Abendlandes. Die ersten Formulierungen christlicher Dogmen auf den ökumenischen Konzilien der Antike bedienten sich der Begrifflichkeit der Philosophie. Mehr noch: Der christliche Glaube wurde mithilfe der metaphysischen und ontologischen Entwürfe, die von den Philosophen erdacht worden waren, formuliert und begrifflich ausgeformt. Platonismus, Aristotelismus und Stoizismus übten einen prägenden Einfluß auf die Theologie aus. Man könnte von einer Hellenisierung der Theologie sprechen.

Umgekehrt wurde dabei aber auch die Philosophie zum Umdenken gezwungen, denn die christologischen und trinitarischen Dogmen sprengten die bisherigen Denkkategorien und -systeme. Nach Klaus Hemmerle hat auch die Theologie, „ihr Eigenes einbringend, ontologische Fragestellungen und Begrifflichkeiten herausgefordert, weitergetrieben, über ihr mitgebrachtes Maß hinausgebracht. Die Antworten von Nicäa und Chalcedon etwa sind eben nicht nur Anwendung, sondern auch Umgestaltung griechischer Philosophie.“[4]

Besonders in der Trinitätslehre wurde rasch sichtbar, daß die bereitliegenden philosophischen Denkformen und Kategorien der frühen Christenheit keine angemessene Explikation des Glaubens gestatteten. Die kappadozischen Theologen (Basilius der Große, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz) mußten deshalb im 4. Jahrhundert die griechische Philosophie revolutionieren, indem sie die begriffliche Äquivalenz von ousia und hypostasis aufhoben, „so daß der Begriff der personal verstandenen hypostasis als logisch wie ontologisch fundamentaler Begriff gedeutet werden konnte. Auf diese Weise werden nicht mehr der ousia als Gottes Wesen identifizierende Eigenschaften zugeschrieben, wie im Eunomianismus, sondern den Hypostasen. Diese identifizierenden Eigenschaften aber werden als die ihre jeweilige hypostatische Identität konstituierenden internen Relationen interpretiert“.[5]

In dem Geschehen der wechselseitigen Beeinflussung von Philosophie und Theologie stand die Trinität nicht nur thematisch im Zentrum – das Geschehen des Dialogs zwischen Vernunft und Offenbarung gewinnt selbst Anteil am trinitarischen Geschehen. Das göttliche Reden zu den Menschen, wie es unüberbietbar und endgültig in der Menschwerdung des Logos geschah, fordert die menschliche Vernunft zur Entwicklung einer trinitarischen Ontologie heraus. Die „theologisch gegründete Weltlichkeit“ des Abendlandes besteht in dem immer neuen Versuch, den trinitarischen Gott zu denken als den, der sich ganz in die Welt entäußert und dadurch die Welt verwandelt hat. Die weltliche Vernunft wird durch die Inkarnation aufgesprengt und über sich hinausgeführt, weil sie auf das Wort Gottes (auf Christus, den Logos) zu hören versucht. Aber auch das Heilige und die darauf hingeordneten Weisen des Gebetes, der Verehrung, des Opfers und des Kultes bleiben nicht rein bei sich, sondern werden in der Auseinandersetzung mit der Welt verändert. Ich gebe nun einige Beispiele für den Einfluß der Trinitätslehre auf das abendländische Denken.

Durch das Heilsgeschehen wird die Welt in das trinitarische Geschehen einbezogen, in dem Vater und Sohn im Heiligen Geist einander lieben und miteinander kommunizieren. Demnach muss das Verhältnis zwischen Gott und Welt (die ökonomische Trinität) analog zur immanent-trinitarischen Relation zwischen Vater und Sohn gedacht werden. Gott und Welt dürfen zwar nicht identifiziert, aber auch nicht einfach nebeneinander gestellt werden. Die mittelalterliche Philosophie versuchte dem gerecht zu werden, indem sie das Einwohnen Gottes in der Welt dachte. In dem Buch Wahrheit der Dinge zeigt Josef Pieper, daß die aufklärerische, deistische Vorstellung eines transzendenten „außerweltlichen“ Gottes gerade nicht, wie im 18. Jahrhundert angenommen, orthodox christlich ist. Als Beleg zitiert Pieper Thomas von Aquin mit der Aussage, daß die Urbilder aller Dinge und die Dinge selbst in Gott seien und daß Gott notwendigerweise in allen Dingen sei, und zwar auf die innigste Weise.[6]

Die bedeutendsten Repräsentanten der neuzeitlichen Philosophie versuchten das Verhältnis von Gott und Welt als Identität des Nichtidentischen zu denken. Über den Ansatz des Nicolaus Cusanus, den man als einen entscheidenden Wendepunkt im Übergang zur Neuzeit verstehen kann, schreibt Heinrich Rombach: Gott ist „nicht nur der Hintergrund der Welt, sondern auch ihr Innengrund, ihr letzter Kern. Man kann in inhaltlicher und eigentlicher Betrachtung keinen Unterschied zwischen Gott und Welt konstatieren; die Spekulation muß gerade auf die Identität kommen.“[7] Dem klassischen griechischen Denken wäre dieser Gedanke, der in Rombachs Darstellung als zentrales Movens der neuzeitlichen Philosophie des Abendlandes erscheint, geradezu absurd vorgekommen. Bedeutsam ist dabei, daß der cusanische Gedanke auch die Ontologie der Welt in entscheidender Weise verändert, also keineswegs auf das Gebiet der Theologie beschränkt bleibt. Allerdings kann nur die Unterscheidung zwischen der quiditas contracta und der quiditas absoluta der Dinge den Cusaner vor dem Irrweg des „Pantheismus“ bewahren, den einzuschlagen die neuzeitliche Philosophie stets in Versuchung war.


Eine trinitarische Ontologie als Aufgabe der Zukunft

Trotz unbestreitbar genialer Ansätze kann man sich fragen, ob das abendländische Denken sich der Herausforderung durch die Offenbarung des dreieinen Gottes im Geschehen der Inkarnation vollständig gewachsen zeigte. Karl Rahner hat 1967 in dem Aufsatz „Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte“ (in: Mysterium salutis, Bd. 2) eine Zurücksetzung der Trinitätslehre beklagt, die schon mit Thomas von Aquin bestimmend geworden sei. Rahner zufolge wurde in der abendländischen Denkgeschichte der eine Gott über den dreieinen Gott gestellt, die Vielheit der göttlichen Personen (Hypostasen) wurde gewissermaßen der Einheit der göttlichen ousia (der einen göttlichen „Substanz“) geopfert. Stattdessen enthält aber die Trinitätslehre die Herausforderung, weder die Vielheit der Einheit noch umgekehrt die Einheit der Vielheit zu opfern. Dies impliziert die Aufgabe, Substanzialität und Relationalität in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen, ohne einer der beiden Denkkategorien ein absolutes Primat einzuräumen. Zwar darf das Denken nicht bei der Annahme von Substanzen, die nur sekundär in Beziehungen zueinander treten, stehen bleiben. Ebenso wenig aber sollte man jede Substanzialität in Relationalität auflösen. Eine trinitarische Ontologie nimmt sich dieser Aufgaben nicht nur für das Denken der innertrinitarischen Verhältnisse (für die immanente Trinität) an, sondern auch für das Denken des Verhältnisses zwischen Gott und Welt (für die ökonomische Trinität), ja für die Wirklichkeit im Ganzen. Die oben zitierten Thesen zu einer trinitarischen Ontologie von Klaus Hemmerle haben hierzu bereits einige Grundlinien ausgezogen.

Zusammenfassend läßt sich mit Joseph Ratzinger konstatieren: Im trinitarischen Gottesbild des christlichen Glaubens liegt „eine Revolution des Weltbildes: Die Alleinherrschaft des Substanzdenkens wird gebrochen, Relation als eine gleichrangige Urweise des Wirklichen entdeckt“.[8] Damit verbindet sich eine Aufgabe für die Zukunft: „Wahrscheinlich wird man sagen müssen, dass der Auftrag an das philosophische Denken, der von diesen Tatbeständen ausgeht, noch lange nicht vollstreckt ist“.[9] Das galt in den 1960er Jahren, als Ratzingers Einführung in das Christentum entstand, und es gilt auch heute noch. Dabei käme es aber nicht nur auf innovative innertheologische Entwürfe an, sondern vielmehr darauf, der Trinitätslehre eine Rolle als „Rahmentheorie für die Entfaltung des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens“[10] zuzuweisen, damit sie der philosophischen Ontologie als Anstoß und Orientierung dienen könne. Erst darin würde sich der universelle Anspruch des christlichen Glaubens auf eine Deutung, ja mehr noch: Verwandlung der ganzen Wirklichkeit realisieren.


[1] Josef Pieper: Überlieferung. Begriff und Anspruch. Kevelaer 2015, S. 58.
[2] Ebd., S. 80.
[3] Ebd., S. 78.
[4] Klaus Hemmerle: Thesen zu einer trinitarischen Ontologie. Einsiedeln 1976, S. 14.
[5] Christoph Schwöbel: Die Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinität in der christlichen Dogmatik. In: ders.: Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik. Tübingen 2002, S. 46.
[6] Josef Pieper: Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters. München 1951, S. 49.
[7] Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. Die Hauptepochen der europäischen Geistesgeschichte (Bd. 1). 3. Aufl. Freiburg i. Br. 2010, S. 168.
[8] Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. 15. Aufl. München 2000, S. 171.
[9] Ebd.
[10] Schwöbel: Trinitätslehre (wie [5]), S. 48.

 

Abbildung: Darstellung der Trinität von Jeronimo Cosida (ca. 1570) mit einem „Schild der Dreifaltigkeit“ (Wikimedia Commons)

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