„Theologisch gegründete Weltlichkeit“. Überlegungen zu Josef Piepers Bestimmung der abendländischen Kultur

Logbuch XIX (27. Juni 2021). Von Daniel Zöllner

 

Wer den Begriff „christliches Abendland“ in eine Suchmaschine eingibt und einige Suchergebnisse anklickt, wird beispielsweise rasch von einem katholischen Theologen darüber belehrt, daß der gesuchte Begriff „frömmelnd, unpräzise und emotionsbeladen“ sei. Man findet auch einen Artikel aus dem Online-Angebot einer bekannten Zeitung, dessen Überschrift sich zu der Aussage versteigt, es handle sich bei dem Begriff „christliches Abendland“ um „geistigen Müll“. Wie kann angesichts solcher Abwehrgesten noch eine sachliche Antwort auf die Frage nach dem christlichen Abendland gegeben werden? Im Anschluß an eine Definition Josef Piepers möchte ich im Folgenden darüber nachdenken.

Aus dem Jahr 1956 stammt ein Aufsatz von Josef Pieper mit dem Titel: „Was heißt ‚Christliches Abendland‘?“ Er findet sich unter anderem in dem Sammelband „Tradition als Herausforderung“ (München 1963). Piepers Antwort auf die im Titel gestellte Frage ist ebenso kurz wie weitreichend, sie kann in drei Worten formuliert werden: „theologisch gegründete Weltlichkeit“. Diese Antwort sei „des näheren so gemeint, daß dies die Quintessenz und das Unterscheidende des abendländischen Geistes sei: auf die christliche Theologie gegründete Weltlichkeit.“ Impliziert ist darin, daß die Kultur des Abendlandes, wie Pieper formuliert, auf einer „gespannten Fügung“ beruht, daß sie nämlich zwei Elemente miteinander verbindet, die beide die Tendenz haben, auseinanderzustreben oder das je andere Element in seiner Eigenständigkeit und in seinem Eigenrecht nicht gelten zu lassen: Weltlichkeit verlangt nach Autonomie und strebt danach, jeden Anspruch transzendenter Normen, also den überweltlichen Anspruch, den Religion und Theologie an sie stellen, abzuschütteln, um sich ungehindert entfalten zu können. Religion und Theologie hingegen haben die Tendenz, unweltlich zu werden, also Welt, Natur und den natürlichen Menschen mit seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit abzuwerten. Es ist nun nach Pieper typisch für das Abendland, daß der stets bedrohte Versuch unternommen wurde, diese beiden Elemente zu verbinden: mit einer Theologie, die das Weltliche bejaht und durchformt, und mit einer Weltlichkeit, die bereit ist, auf einen überweltlichen Anspruch zu hören, sich von der Theologie in Anspruch nehmen zu lassen. Das heißt: Nichteuropäisch ist einerseits „eine von keiner Weltverpflichtung beunruhigte Religiosität“ und andererseits „eine von keinem überweltlichen Anruf beunruhigte Weltlichkeit“.


Es wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe, Piepers These im Kulturvergleich zu prüfen. Hierzu läge beispielsweise in den Forschungen Shmuel N. Eisenstadts zu den „Kulturen der Achsenzeit“ reiches Material vor. Alle „axialen Kulturen“ kennen nach Eisenstadt die Spannung zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen – im Unterschied zu den prä-axialen Kulturen, für die das Göttliche Teil des Irdischen war. Es müßte sich, wenn Piepers Definition tragfähig ist, erweisen lassen, daß die abendländische Kultur sich von anderen axialen Kulturen dadurch abhebt, daß sie Irdisches und Göttliches zwar unterschied, aber nicht trennte, sondern vielmehr zu einer Synthese verband. Es wäre dann die Frage, ob vergleichbare Synthesen auch in anderen axialen Kulturen gefunden werden können, oder ob Pieper recht zu geben ist, wenn er diese Synthese als „das Unterscheidende des abendländischen Geistes“ bestimmt, also als ein Spezifikum des christlichen Abendlandes.


Die abendländische Synthese von Theologie und Weltlichkeit hat ihre Grundlage in der Lehre von der Inkarnation und von den zwei Naturen Christi. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht der inkarnierte Gott, der in sich zwei Naturen unabgeschwächt und (gemäß dem Chalcedonense) „unvermischt“ vereinigt: eine menschliche und eine göttliche Natur. Die Menschwerdung Gottes bedeutet die wohl innigste denkbare Verschmelzung von Gott und Mensch, Gott und Welt – ohne daß damit ein Rückfall in einen präaxialen „Pantheismus“ verbunden wäre. Schon damit ist dem christlichen Glauben und dem christlichen Abendland aufgegeben, die Bejahung und Durchformung der Welt zu verbinden mit dem Hören auf den Anspruch einer Offenbarung, die dem Menschen von jenseits der Welt zukommt. Die spannungsvolle „Zweieinigkeit“ von Weltlichkeit und Theologie war stets in Gefahr, einseitig zu werden, also einerseits die Theologie rationalistisch zu vereinnahmen, andererseits Welt und Vernunft theologisch für nichtig und wertlos zu erklären. Doch mit der Lehre von der Inkarnation und von den zwei Naturen Christi war die Aufgabe verbunden, diese beiden Irrwege zu vermeiden.


Es wäre zu einseitig, das Prinzip der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ auf die europäische Geistesgeschichte einzuschränken, also auf die Leistungen einiger weniger herausragender Intellektueller, die es unternahmen, Theologie und Philosophie oder Glaube und Wissen miteinander zu verknüpfen (so sehr diese Leistungen paradigmatisch für das Abendland sind). Ebensowenig wird man Piepers These gerecht, indem man jene theologisch gegründete Weltlichkeit des Abendlandes nur im Mittelalter glaubt feststellen zu können. Nimmt man Pieper ernst, so ist die theologisch gegründete Weltlichkeit vielmehr die Grundstruktur der abendländischen Kultur in all ihren Epochen – wenn auch natürlich in wechselnden Konstellationen der Elemente, aus denen sie besteht.


In seinem Buch „Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie“ (München 1960) hat Josef Pieper die verschiedenen Entwürfe beschrieben, mit denen das Mittelalter (die Scholastik) das abendländische Grundproblem der Vereinigung von Glaube und Wissen gelöst hat, beginnend mit Boethius über Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin bis hin zu Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Pieper zeigt in diesem Buch immer wieder die Gefahren eines einseitigen Rationalismus und eines einseitigen Fideismus oder Biblizismus auf. In seiner „Hinführung zu Thomas von Aquin“ (München 1958) hatte Pieper bereits Thomas’ Synthese von Philosophie und Theologie als Paradigma für die abendländische Kultur, als paradigmatische Lösung von deren Grundproblem dargestellt. Es zeigt sich, daß die These von der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ auch einen Schlüssel zu Piepers eigenem Werk bereitstellt.


In dem Schreiben „Lumen Ecclesiae“, das Papst Paul VI. aus Anlaß des 700. Todestages des Thomas von Aquin 1974 verfaßte, wird mehrfach auf Piepers Thomas-Buch von 1958 verwiesen. Paul VI. schreibt, Thomas’ Leistung bestehe in einer „Versöhnung zwischen der säkularen Diesseitigkeit der Welt und der Radikalität des Evangeliums; damit entzog er [Thomas] sich der widernatürlichen Tendenz zur Leugnung der Welt und ihrer Werte, ohne allerdings die höchsten und unbeugsamen Ansprüche der übernatürlichen Ordnung zu vernachlässigen.“ Eben diese Passage wird wiederum von Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Fides et ratio“ (1998) zitiert, um Thomas zu würdigen. Nach Walter Hoeres hat Thomas mit seiner Synthese von Philosophie (Platonismus bzw. Aristotelismus) und christlicher Theologie die Einheit der abendländischen Weltanschauung zum Ausdruck gebracht und begründet. Piepers These von der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ des Abendlandes macht somit die Bedeutung Thomas’ für unseren Kulturkreis eindrucksvoll deutlich.


Eine offene Frage bleibt bei Pieper allerdings der Status der Neuzeit. Zweifellos ist diese Epoche der abendländischen Geschichte gekennzeichnet durch eine stärkere Eigenständigkeit der Philosophie und der Wissenschaften, die sich von der Theologie emanzipieren. Auch bringt die Neuzeit vermehrt denkerische Entwürfe hervor, die das abendländische Grundproblem einseitig lösen, einseitig zugunsten der Vernunft oder auch einseitig zugunsten der Religion. Doch zeigen die Anstrengungen vieler neuzeitlicher Denker (wie Leibniz, Pascal, Kant und Hegel), daß auch sie Vernunft und Offenbarung zu verbinden versuchten und damit immer noch unter dem Anspruch des Grundproblems der abendländischen Kultur dachten und lebten. Auch diesen Denkern hat die Offenbarung der Heiligen Schrift, mit der Formulierung Paul Ricœurs, immer erneut „zu denken gegeben“. Dies hat etwa Peter Henrici in seiner Abschiedsvorlesung „Das Christentum gibt zu denken“ (erschienen 2008 in der Zeitschrift „Communio“) vor allem anhand von Hegel eindringlich nachgewiesen. Henrici hat damit unbewußt die Tragweite von Piepers Definition des abendländischen Geistes gezeigt.


Wenn man Pieper zustimmt, stellen sich einige Fragen in Bezug auf die Gegenwart der abendländischen Kultur. Ist Pieper auch heute noch Recht zu geben, wenn er in seinem Thomas-Buch 1958 schreibt: „[E]s läßt sich in der Tat zeigen, daß wir [...] noch immer tatsächlich unter der Nötigung jenes Richtbildes stehen, das Thomas formuliert hat: Es gelingt uns einfach nicht, ohne Beunruhigung eine gegen jeden überweltlichen Anruf isolierte Weltlichkeit zu leben; wie es uns gleichfalls nicht möglich ist, ohne Beunruhigung eine gegen jede Weltverpflichtung isolierte ‚religionistische‘ Religiosität zu leben. Wir bringen es nicht fertig (heißt das), konsequent gegen das Prinzip zu leben, das die Essenz des christlichen Abendlandes ausspricht.“ Diese Feststellungen erscheinen heute veraltet.
Wohlstand, Konsum und Massenmedien tragen das Ihre dazu bei, daß das Christentum mit seinem Anspruch zunehmend in Randbereiche abgedrängt oder mehr und mehr verweltlicht wird bzw. sich selbst verweltlicht. Die damit verbundene Gefahr besteht darin, daß die Überlieferung der abendländischen Kultur abreißt, weil die Aufgabe, die sich das Abendland – über die Generationen hinweg – gestellt hatte, nicht mehr zu bewältigen versucht wird. An die Stelle einer Synthese aus zwei Elementen (transzendenter Anspruch und Immanenz), die in Spannung zueinander stehen, tritt die langweilige, spannungslose Diesseitigkeit, wie sie beispielsweise in einem theoretischen und praktischen Materialismus zum Ausdruck gebracht wird.


Doch es gibt auch Anzeichen dafür, daß die Weltlichkeit erneut bereit wird, auf einen religiösen Anspruch zu hören. Im intellektuellen Diskurs steht dafür meines Erachtens eine jüngere Wendung von Jürgen Habermas. Vor rund zwanzig Jahren, im Jahr 2001, hielt Habermas seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels über das Thema „Glauben und Wissen“. Darin äußerte er sein Ungenügen an einer materialistischen Erklärung des Geistes und mahnte eine Übersetzung religiöser Inhalte in die Sprache säkularer Vernunft an. Diese Übersetzung sei nicht nur Aufgabe der Gläubigen, sondern auch derjenigen, die der Religion fernstehen. Im Gespräch mit Joseph Ratzinger hat Habermas seine neuere Position wie folgt auf den Punkt gebracht: „Die Philosophie hat Gründe, sich gegenüber religiösen Überlieferungen lernbereit zu halten“. Auch wenn dies noch sehr vorsichtig formuliert ist und aufgrund der „religiösen Überlieferungen“ im Plural natürlich nicht als Bekenntnis zur christlichen Tradition Europas verstanden werden kann, so handelt es sich doch um eine vorsichtige Öffnung säkularer Vernunft für den Anspruch der Offenbarung, die uns in Jesus Christus begegnet. Die Vernunft sollte lernbereit sein, sie sollte deshalb hörbereit sein für das, was ihr in der Offenbarung gesagt wird. Es trifft zu, was Paulus im Römerbrief (10,17) formuliert hat: „Der Glaube kommt aus dem Hören“. Eine hörbereite Vernunft ist deshalb nicht allzuweit vom Glauben entfernt. Vielleicht läßt sich Habermas’ Öffnung für die christliche Religion als ein Samenkorn verstehen, das aufgehen oder auch schnell wieder erstickt werden könnte.


Ich möchte mit Gedanken zu den Forderungen schließen, die sich aus Piepers Definition ergeben. Die Kirchen müssen wirklich Orte der Transzendenz, des überweltlichen Anspruchs an unsere Welt sein und bleiben. Wir dürfen diesen überweltlichen Anspruch nicht als beengende Einschränkung mißverstehen, sondern müssen ihn vielmehr – im Sinne von Joh 8,32 – als Wahrheit erkennen, die uns frei macht. Aber weil Gott Mensch geworden ist, dürfen sich gläubige Christen auch nicht vor der Welt verschließen. Sie haben die Aufgabe, eine Weltverpflichtung und Weltverantwortung zu übernehmen, sich zwar nicht an die Welt zu verlieren, diese aber zu gestalten im Sinne des Anspruchs, der von Gott kommt. Es wird Zeit für das Abendland, sich erneut an diese doppelte Aufgabe zu erinnern.


Bild: Ladislaus Weiss: Abendländische Visionen (Wikimedia Commons / Bettina Stamm / MissBoo2312)

 

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