LOGBUCH LXV (16. Oktober 2024). Von Franz Prosinger
„Gott“
„Das Wort Gott selbst ist eine Metapher, näherhin eine verblasste (konventionalisierte, selbstverständliche) Metapher“.[1] Geht man aber zunächst von einer konventionellen Metapher aus, die erst im Lauf der religiösen Erfahrungen präzisiert wird, nimmt man eine Flut von Assoziationen in Kauf, die mit dem Wort „Gott“ verbunden werden: für den Aberglauben eine Schicksalsmacht, ein Drahtzieher hinter den Wolken, oder beim sogenannten Gott der Philosophen die „denknotwendige Transzendenz“[2] bzw. in einem Zirkelschluß aus dem Kontingenten einen unbewegten Beweger.
Hier soll mit „Gott“ derjenige bezeichnet werden, dem ich mich in jedem Augenblick verdanke. „Verdanken“, im Unterschied zu „schulden“, ist die Antwort auf eine positive Einladung. Damit ist zugleich eine personale Begegnung zum Ausdruck gebracht: ein Ruf, der einlädt und befähigt, antwortend einzustimmen. Dieses Sich-Verdanken betrifft den Ursprung der eigenen Existenz. Auch wenn sich der suchende Mensch de facto vorfindet oder gar als ungefragt hingeworfen empfindet, ist das sich öffnende Suchen bereits eine erste Antwort. Ludwig Wittgenstein schreibt in seinen Tagebüchern am 8.7.1916: „An einen Gott glauben heißt die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, daß es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, daß das Leben einen Sinn hat“.[3] Schon die Suche nach dem Sinn des Lebens wird als sinnvoll angenommen, ohne deshalb das noch ausstehende Finden zu eskamotieren.[4]
Den scheinbaren Zirkel von Vorgabe und Aufgabe reflektiert Rabbi Jaakob Jizchak von Lublin, da es in der Schrift einmal heißt: „Kehret zu mir um, und ich will mich kehren zu euch“ (Sach 1,3), ein anderes Mal: „Kehre uns, Herr, zu Dir, und wir kehren um!“ (Klgl 5,21). Das sich daran anschließende Wort, „erneuere unsere Tage wie ureinst“, deutet der Rabbi: „Wie es vor der Erschaffung der Welt war, als noch nichts anderes war als die Erweckung von oben“, und verbindet damit die Bitte: „Mache uns wieder zu deinem Gefäß, daß sich allzeit unsere Umkehr erwecke“.[5] Das Erwecken der Zuwendung nennt die Theologie eine gratia praeveniens (zuvorkommende Gnade). Diese will uns ergreifen und wir können uns ergreifen lassen. Diese Einladung ist eine angehobene Wirklichkeit, die das Ohr öffnet (vgl. Röm 10,17; Jes 50,5; Ps 40,7) und sich selbst so bezeugt, daß sie überzeugt, ohne zu überwältigen. Machtvoll und voll Güte (Weish 8,1) wird dem je neu Erweckten ein ausreichendes Licht geschenkt, um sich in Freiheit ergreifen zu lassen und freudig einzustimmen.[6]
Das Sprechen über Gott
Sich Gott verdanken und Ihn als Gott an-erkennen[7] ist ein performatives Ereignis. Das heißt aber nicht, daß das nachdenkende Ich darin absorbiert wäre. Es ist im Gegenteil als eingeladenes und aufgefordertes Ich zugleich auf sich zurückgeworfen. Dabei geschieht das Nach-Denken nicht in einem zeitlichen Nachhinein. Angesichts des vorrangigen überzeugenden Ergriffenseins soll der nachdenkende Mensch zugleich zu begreifen suchen, wie es um ihn steht. Daß das begreifende Denken sich angesichts der umgreifenden Wirklichkeit auch zurücknehmen muß, ist kein credo quia absurdum (Ich glaube, weil es widersinnig ist). Das wäre irrational und unverantwortlich. Vielmehr ist eine letzte Unbegreiflichkeit begriffen und bejaht.[8] Aber die Beziehung zwischen Gott und Mensch muß auch angesichts einer noch so tiefen Vereinigung begrifflich differenziert werden. Das sich selbst aus sich selbst selbstlos schenkende und überzeugend bezeugende Leben ist das des Schöpfers und der gerufene und empfangende Mensch ist sein Geschöpf. Auch wenn Gott sein Leben uns anvertraut und in uns leben will, so kann man doch nicht sagen, „Gott scheidet sich von sich selbst“, und sei „wortwörtlich zerrissen“ (Martin Thoms). Nach Jak 4,5 verlangt Gott zwar eifernd nach dem Geist, den er in uns wohnen läßt. Aber das ist nicht der Geist, den er selbst in uns verloren hätte, sondern den er als den uns anvertrauten in entsprechender Antwort zurückerwartet. Die dialogische Beziehung wahrt die souveräne Eigenständigkeit der göttlichen und die anvertraute Eigenständigkeit der menschlichen Person. Die Immanenz Gottes, seine Shekinah, ist der Abglanz seiner Transzendenz (apaúgasma in Weish 7,26; Heb 1,3) und kein „gottverlassener Gott“ (Thoms).[9]
Theodizee
Daraus folgt, daß wir Gott nicht auf die Anklagebank setzen können, sondern mit uns selbst ins Gericht gehen sollten – nicht aus blinder Unterwerfung, sondern aus rationaler Verantwortung. Gott war auch in Auschwitz da, wo er immer war und ist: in jedem von uns, rufend und wartend, inmitten heroischer Heiligkeit und teuflischer Bosheit, in duldender und geduldiger Liebe jeweils neu einen Weg zum Heil eröffnend. Angesichts dessen, was Menschen Menschen antun, ist es Unverstand und unverschämt, Gott und nicht den Menschen, sich selbst, anzuklagen. Richtig schreibt Thoms, daß Gott nicht von oben, sondern von unten wirkt, besser gesagt: von innen. Aber dabei scheidet er sich nicht von sich selbst und macht sich auch nicht erlösungsbedürftig, sondern er bleibt sich treu und will uns erlösen.
Die Erlösung ereignet sich nicht dadurch, daß Gott „vollkommen im Fleisch auf[geht]“, sondern einen beseelten Leib annimmt (Joh 1,14). Das meint das hebräische baśar und bezeichnet zugleich den zum Opfer hingegeben Leib. Nach Heb 5,7–10 brachte Christus in den Tagen seines Fleisches in der Todesnot dem Vater Flehrufe und Bitten dar und mußte aus dem, was er gelitten hat, den Gehorsam lernen. So hat er sich betend in den Willen des Vaters durchgerungen (Mk 14,36) und als Opfer dargebracht. Das meint das hagiázô in Joh 17,19: „Für sie konsekriere ich mich, damit auch sie [die Meinen] in Wahrheit konsekriert seien“. Keine Rede ist davon, daß Christus an den Ort der Verdammten gelangt wäre, wohin nur die freiwillige schwere Sünde führt (2Petr 2,4). Christus begab sich am Kreuz in das freiwillige Todesgericht über die Sünde, um uns in sein Sühnopfer[10] hineinzuziehen (Joh 12,32). Er wurde für uns nicht zur Sünde, wie 2Kor 5,21 oft falsch übersetzt wird, sondern zum Sündopfer. Wer den Fachausdruck hamartía (z. B. in Lev 16,25) nicht kennt, kann es auch so verstehen, daß der Gekreuzigte uns ein Bild unserer Verfehlungen vor Augen hält (vgl. Jes 53,5). Nach dem in Mk 15,34 zitierten Eingangsvers des 22. Psalms rief der Herr offensichtlich laut den 11. Vers: „Mein Gott bist Du“ (hebr. ᵓelî ᵓâtâh) und wurde auf Aramäisch ᵓelîâh ᵓtâᵓ verstanden: „Komm, Elija!“ In Vers 22 f. heißt es dann: „Du hast mir geantwortet, ich will Deinen Namen meinen Brüdern erzählen“. Christus ist natürlich nicht als ein von Gott Verfluchter gestorben, sondern er hat den Fluch des Gesetzes auf sich genommen (Gal 3,13). Paulus meint hier nicht den Geist der tôrâh, sondern eine buchstabengetreue Erledigung äußerer Vorschriften, die sich durch die Anwendung von Dtn 21,23 auf den gekreuzigten Herrn selbst ad absurdum führt. Wie könnte Paulus sonst in demselben Galaterbrief schreiben: „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Mit Christus bin ich vollkommen gekreuzigt, nicht mehr ich lebe, vielmehr lebt Christus in mir; soweit ich noch im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, der dem Sohn Gottes gilt, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,19 f.). Wäre der Gekreuzigte verflucht und von Gott verlassen, wie könnte sich Paulus einzig und allein im Kreuz des Herrn rühmen wollen (6,14)? Nicht deshalb, weil Gott-Vater durch eine stellvertretende Bestrafung seines Sohnes einen äußeren Schuldbrief zerrissen hätte – Kol 2,14 betont im Kontext, daß wir mit Christus zusammen sterben und auferstehen –, sondern weil uns der Sohn in seine erlösende Hingabe an den Vater hineinziehen will.[11]
Im Kreuz ist Heil
Tatsächlich findet sich – und da ist Moltmann und Thoms zuzustimmen – im Kreuz die Antwort auf unsere Fragen. Während die Machthaber von oben herab herrschen (kata-kyrieúousin, kata-exousiázousin in Mk 10,42; kata-dynasteúô in Weish 2,10; 15,14; 17,2) und die Welt auf diese Weise zerstören,[12] offenbart sich im Kreuz Christi ein fundamentaler Paradigmenwechsel: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösepreis für viele“ (Mk 10,45). Auf diese Weise kann das sich selbstlos schenkende Leben wieder empfangen und weitergegeben werden. In seinem Büchlein Vom lebendigen Gott zeigt Guardini, wie dadurch die Welt erneuert wird. Der neue Himmel und die neue Erde können bereits aufleuchten, wenn unser Auge rein wird und von Selbstsucht befreit unserem ganzen Leib Licht schenkt (Lk 11,34). Die ganze Schöpfung sehnt sich nach dem Offenbarwerden der Kinder Gottes (Röm 8,19–21). „Der verklärte Herr aber lebt. Er lebt und wirkt. Er zieht die Welt an sich. Er will sie zum einzigen großen Geheimnis seines geheimnisvollen, verklärten Leibes machen; die Menschen nicht nur, sondern auch alle Kreatur; auf daß so ‚unter ihm als dem Haupte alles zusammengefaßt werde, was im Himmel und auf der Erde und unter der Erde ist‘. Alle Schöpfung eine Einheit, von der Gewalt seines gottmenschlichen Lebens durchwirkt“.[13] Vor der Vollendung am Ende dieses Zeitalters liegt es an uns, diese neue Schöpfung bereits leibhaftig sichtbar werden zu lassen. Gott manipuliert nicht von oben herab, wenn wir seiner Einladung nicht folgen.
[1] LUDGER SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER: Der eine Gott und die Götter. Religions- und Theologiegeschichte Israels (Freiburg 2023) 42.
[2] HELMUT KUHN: Das Sein und das Gute. München 1962.
[3] https://www.wittgensteinproject.org/w/index.php/Tagebücher_1914-1916#8._7._16.
[4] BLAISE PASCAL: Gedanken (Stuttgart 2021) Zählung nach Lafuma 919: „Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest“.
[5] MARTIN BUBER: Die Erzählungen der Chassidim (Werke Dritter Band, München 1963) 435 f.
[6] Vgl. dazu den Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 26.
[7] Im Sinn des hebräischen jdc (etwa in Jer 31,34; Hos 4,1; vgl. Joh 17,3).
[8] Vgl. ANSELM VON CANTERBURY: Proslogion, Cap XV: Quod maior sit quam cogitari potest (Opera Omnia, Stuttgart 1968) II, 112.
[9] Ausführlicher in: FRANZ PROSINGER: Leibhaftige Welt. Biblischer Personalismus (St. Ottilien 2023).
[10] HARTMUT GESE: Die Sühne, in: ders.: Zur biblischen Theologie (3. Aufl., München 1989) 98.104.
[11] Dazu ausführlicher: FRANZ PROSINGER: Geheiligt in Wahrheit. Eine biblische Soteriologie (St. Ottilien 2021), besonders zu den Einwänden aus 2Kor 5,21; Gal 3,13; Mk 15,34: 265–292.
[12] Das gilt auch für die Unterdrückten, die danach streben, ebenfalls zu unterdrücken.
[13] ROMANO GUARDINI: Vom lebendigen Gott (Mainz 1936) 135.
Der Beitrag von Martin Thoms: Der gottverlassene Gott.
Abbildung: Der Gnadenstuhl aus dem sog. Landgrafenpsalter (13. Jh.). Siehe: https://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/sammlungsliste/werksansicht?id=6&tx_dlf%5Border%5D=title&tx_dlf%5Bid%5D=1417&tx_dlf%5Bpage%5D=360