Versuch über den kleinen Mann

 Logbuch XVII (15. Januar 2021). Von Michael Rieger

 

Es gibt da eine Stelle in Rolf Peter Sieferles Finis Germania, jenem nachgelassenen, kontrovers diskutierten Text, die lautet:

„Die moderne, zivilisierte Gesellschaft ist in der Tat demokratisch, d. h. es herrscht in ihr der kleine Mann, und er prägt ihr seinen Stempel auf. Dies unterscheidet sie von früheren Hochkulturen, in denen immer Aristokratien geherrscht haben, die gewöhnlich eine Patina kultureller Verfeinerung ansetzten. Die Massenzivilisation ist deshalb so unkultiviert (und merkt dies nicht einmal), weil in ihr ein vulgärer Typus an der Herrschaft ist: der Massenmensch, für den Fast Food und Entertainmentkultur geschaffen sind und dessen Bedürfnissen sie exakt entsprechen.“ (Zit. n. 1. Auflage, Schnellroda 2017, S. 92).

Zunächst zur Seite gesprochen: Die „kulturelle Verfeinerung“ der britischen Aristokratie belegt etwa Lord Kitchener, der, baron seit 1898, viscount seit 1902, während des Zweiten Burenkriegs die Konzentrationslager „erfand“; der Enkel des Duke of Marlborough, Winston Churchill, zeigte seine „kulturelle Verfeinerung“ vor allem ab 1942, als er die deutschen Städte in Schutt und Asche bomben ließ; bleiben die Franzosen und Versailles – am 5. Oktober 1789 zogen die Pariser Marktfrauen vor des Königs Schloß und riefen „Versailles schlemmt, Paris hungert“; dem preußischen Adel kann man wahrlich viel nachsagen – aber kulturelle Verfeinerung?

Zurück zum Zitat. In der modernen, zivilisierten Gesellschaft, so heißt es also, herrsche der kleine Mann. Und: Der kleine Mann prägt dieser modernen Gesellschaft seinen Stempel auf.

Das sind zwei unterschiedliche Gedanken – gewiß prägt der kleine Mann (dieser sprichwörtliche kleine Mann von der Straße, der einfache, ja durchschnittliche Mann ohne größeren Einfluß, der vom Abstieg bedrohte kleine Mann bei Hans Fallada, oder im Plural, die kleinen Leute) dieser Gesellschaft seinen Stempel auf, die Beispiele lassen sich leicht finden. Der kleine Mann und die kleine Frau geben sich ein Stelldichein, wenn es darum geht, uns und unserer Gesellschaft ihren Stempel aufzudrücken, was dank der modernen Kommunikationstechnik mittlerweile zu einer Inflation primitiver, dämlicher, nichtswürdiger Manifestationen geführt hat. Bei Yahoo lesen wir (13.1.21): „Anna Ermakova – Ohne BH! Man sieht fast alles! Zu heiß für Instagram. Ermakova zensiert ihr eigenes Selfie.“ Oder in der Zeit (10.1.21): „Wir hatten damals schon ein paar Lustige bei uns im Osten. Der Kölner Tatort konstruiert einen hanebüchenen Fall um eine Frau und ihre DDR-Vergangenheit. Und dann kommt auch noch Porno-Peter vor.“ Ja, isses wahr? Dann kommt auch noch Porno-Peter vor! Man glaubt es kaum. Und der Deutschlandfunk lehrt uns: „Wird auf der Theaterbühne nur nackt geschrien? In einem Cartoon von Hannes Richert sagt ein Pärchen im Theaterfoyer zu einem dritten Zuschauer: ‚Wir haben ja erst über Lars Eidingers Penis wieder zu Shakespeare gefunden.‘“ Potztausend. Eidingers Penis und Shakespeare. Darauf muß man erst einmal kommen! Darauf ist ja nicht einmal Heiner Müller gekommen!

So drückt also tagtäglich der kleine Mann, so drückt tagtäglich die kleine Frau dieser unserer Gesellschaft ihren kleinen Stempel auf.

Aber – wenn wir von Herrschaft sprechen…

… herrscht nicht vielmehr doch der „große“ Mann? So heißt es im Manager-Magazin (25.9.2020): „Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner ist auf dem Papier bald Milliardär. Der Weg dahin ist (…) zum größten Teil steuerfrei. Ein äußerst großzügiges Geschenk [der Springer-Witwe Friede]. (…) Legt man den Preis zugrunde, mit dem die Springer-Aktie zuletzt gehandelt wurde, wird Döpfners Präsent über eine Milliarde Euro wert sein. Selbst in den USA (…) wäre eine solche Summe extrem. Noch attraktiver wird das Geschäft für Döpfner, weil er das Aktienpaket wohl auch noch weitestgehend steuerfrei einstreichen darf. Grundsätzlich würden für ein Geschenk in dieser Größenordnung außerhalb der Familie 50 % Schenkungsteuer anfallen (…). Nur einen kleinen Freibetrag in Höhe von 20.000 Euro könnte Döpfner geltend machen. Ausnahmeregeln für Betriebsvermögen gelten in seinem Fall eigentlich nicht, da es um weniger als 25 % des Unternehmens geht. ‚Das kann man aber durch sogenannte Pool-Verträge umgehen‘, sagt Helge Schubert (43), Steuerberater und Fachanwalt für Steuerrecht bei der Hamburger Kanzlei Rose und Partner. Das dürfte laut Schubert auch auf Döpfners Fall zutreffen, denn Springer hat ihm zusätzlich zur Schenkung die gemeinsamen Stimmrechte an ihrem verbliebenen Aktienpaket eingeräumt (rund 22 %). Er kontrolliert künftig also – direkt oder mittelbar – gut 44 % der Anteile.“ Wenn man das Gebaren von Fräulein Ermakova oder den Tatort oder den erbärmlichen Zustand unseres Theaters mit Recht als vulgär bezeichnen will, dann könnte man diese Vorgänge als obszön bezeichnen.

Ist aber Herr Döpfner der kleine Mann des Fast Food, wie es bei Sieferle heißt? Ich glaube nicht. Es würde mich enttäuschen.

Und weiter: Jeff Bezos, der Gründer des Online-Handelsunternehmens Amazon, gilt mit einem geschätzten Vermögen von 190 Milliarden US-Dollar als einer der reichsten Menschen überhaupt. Amazon hat nicht nur eine beeindruckende Produktpalette, das Unternehmen bietet mit dem Kindle auch ein eigenes, erfolgreiches Lesegerät für eBooks, mit dem Amazon Fire TV Stick kann man alle möglichen Filme und Serien streamen und und und… Und es ist Amazon gelungen, ein eigenes Vertriebsnetz aufzubauen. Die Zerschlagung des Konzerns wird regelmäßig diskutiert und seit Jahren gibt es Auseinandersetzungen über die Arbeitsverhältnisse bei Amazon. So berichten Lager-Arbeiter davon, schlicht keine Pausen mehr zu haben. Laut Verdi (twitter-Meldung vom 21.12.2020) „verweigert der Konzern den Beschäftigten eine tarifvertragliche Bezahlung“. Dem Betriebsratschef von Amazon Leipzig zufolge (Hannoversche Allgemeine, 14.5.2019) stieg der Stundenlohn von 7,76 Euro auf über 12,50 Euro: Amazon scheint nicht so schlecht zu zahlen (siehe Die Zeit, 1.10.2015), eine Reservearmee der Ungelernten steht bereit. (Nebenbei, beim Konkurrenten Thalia ist man laut DGB auf den Gedanken verfallen, die Gehaltsstruktur der Angestellten an den schwankenden Umsatz zu koppeln.)

Und weiter: Am 2.11.2020 berichtete der Spiegel: Es war „der teuerste Wahlkampf der Geschichte. Republikaner und Demokraten investierten so viel Geld wie noch nie, um sich die Macht im Weißen Haus und im Kongreß zu sichern: Rund 14 Milliarden Dollar.“

14 Milliarden Dollar. Vulgär? Nein, aber einmal mehr obszön. Und bei dieser Summe zeigt sich eigentlich recht deutlich und sofort, daß es eben vielleicht doch nicht der kleine Mann ist, der sich von Fast Food ernährt, der in dieser heruntergekommenen Gesellschaft herrscht. Daß es vielleicht doch nicht ganz so demokratisch zugeht.

Doch könnte man einwenden, Sieferle ziele darauf, den Typus des mediokren Massenmenschen gleichermaßen „unten“ und „oben“ am Werk zu sehen; Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel, allesamt wirklich kleine Männer und eine kleine Frau, die es bis nach oben ins Kanzleramt geschafft haben. Rudolf Scharping blieb es – graças a Deus – verwehrt. Der kleine Taxifahrer Fischer wurde aufgrund besonderer Fügung Bundesaußenminister. Ergo: Der Kleinbürger herrscht. Der kleine Mann herrscht.

Doch dem ist nicht so. Denn zunächst einmal sind Jeff Bezos und der Lagerist bei Amazon Leipzig nicht ein und dieselbe Person. Der zweifelsfrei kleine Mann Donald Trump ist nicht identisch mit seinen Anhängern, den anderen kleinen Männern, die sich jüngst ermuntert sahen, das Kapitol in Washington bzw. den Kongreß anzugreifen. Desweiteren kommt es bei den kleinen Männern wie Schröder oder der kleinen Frau Merkel infolge der Oligarchisierung des Parteiensystems zur Herausbildung des Bewußtseins einer Funktionselite, die ihre einmal gewonnene Macht gern behält. Sprich: Sobald der kulturell kleine Mann herrscht, ist er sozial gesehen kein kleiner Mann mehr, siehe Schröder, Fischer, siehe die gesamte Sozialdemokratie.

Sieferle verwischt diesen Unterschied. Das Verhältnis der von ihm gemachten Aussagen läßt sich eben nicht über die Identität bestimmen (der kleine Mann prägt die Gesellschaft = er herrscht). Die ökonomische Macht, ja geradezu im Monopolstatus, und ihre Herrschaftsmittel gehen nicht von Falladas kleinem Mann aus, vielmehr ist es genau umgekehrt: Sie beherrschen den kleinen Mann.

Zwar bilden Sieferles Worte eine traurige Realität ab, nämlich die ruinierte Kultur, die Kleinheit unserer kulturellen Landschaft, die wahlweise kleinmütig oder kleingeistig ist: Fack ju Göhte war mit 55 Millionen Einspielergebnis eine gute Investition. Aber als politische Analyse taugen seine Worte nicht viel. Vielmehr reihen sie sich geräuschlos in die – von der katholischen Soziallehre abgesehen – soziologisch und sozioökonomisch blinde Tradition der konservativen Theorie ein und verstellen den Blick gerade auf das, was wirklich mit „Herrschaft“ gemeint ist.

Bild: Heinz Plank: Der grausame kleine Mann (1991) (Wikimedia Commons / Andreas Plank)

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