Totalitarismus und Propaganda. Josef Piepers apokalyptische Perspektive auf die Gegenwart

LOGBUCH XXXI (2. August 2022). Von Daniel Zöllner

 

In seinem Roman „Dienstanweisung für einen Unterteufel“ hat C. S. Lewis den Umgang der zeitgenössischen Akademiker mit der europäischen Tradition aufgespießt: Einem diabolischen Einfluß sei es zu verdanken, daß es heute als einfältig abgewiesen wird, „die Schriften des alten Verfassers als mögliche Quelle der Erkenntnis anzusehen … Dank dem ‚geschichtswissenschaftlichen Standpunkt‘ schöpfen die großen Gelehrten von heute so wenig Erkenntnis aus dem Wissen der Vergangenheit wie der unwissendste Schlosser, der behauptet, ‚Geschichte ist Humbug‘!“

Wenn dagegen Josef Pieper die Tradition europäischen Denkens vergegenwärtigte, dann motivierte ihn niemals ein bloß museales Interesse an den Aussagen der Vergangenheit, sondern vielmehr die Frage, was diese Aussagen uns für die Gegenwart bedeuten können. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß Piepers Werk zwar in der akademischen Philosophie kaum präsent ist, dafür aber außerhalb des universitären Lehrbetriebs immer noch gern gelesen wird.

Schon zwei recht kurzen Texten aus Piepers Feder, die 1974 in dem Aufsatzband „Von der Schwierigkeit, heute zu glauben“ veröffentlicht wurden, kann man in Umrissen eine kritische Theorie des gegenwärtigen Zeitalters entnehmen. Es handelt sich um die beiden Aufsätze „Über die Kunst, nicht zu verzweifeln“ und „Mißbrauch der Sprache – Mißbrauch der Macht“. Während der zweite Aufsatz vom Sprachmißbrauch durch Propaganda handelt, entwirft der erste Aufsatz das Bild einer drohenden totalitären Zukunft. Zusammengenommen ergeben diese beiden Aufsätze ein apokalyptisches Bild der Gegenwart.

In seiner Diagnose und in den Reaktionsweisen, die er empfiehlt, greift Pieper auf den gesamten Fundus der europäischen Geistesgeschichte bis zu Platon zurück. Piepers Blick ist weder auf die Gegenwart noch auf die Vergangenheit fixiert. Er schaut zurück und voraus, vor allem aber auf das, was immer gilt, um mit dessen Hilfe eine Bewältigung der Gegenwart zu ermöglichen.

 

 

Propaganda: Mißbrauch der Sprache als Machtmittel

 

Der Aufsatz „Mißbrauch der Sprache – Mißbrauch der Macht“ blickt zurück auf Platons Auseinandersetzung mit der Sophistik. Diese dient als Modellfall für die Gegenwart, denn die sophistische Gefährdung begleitet zu allen Zeiten das gesellschaftliche Leben. Daß das Adjektiv „sophistisch“ noch heute einen abwertenden Klang besitzt, ist nicht zuletzt auf Platon zurückzuführen. Das bedeutet aber nicht, daß der Gehalt der platonischen Kritik heute noch allgemein bewußt ist.

Pieper arbeitet heraus, was Platon an der Bewegung der Sophisten kritisiert. Durch ihren Umgang mit dem Wort haben die Sophisten die Sprache in zweierlei Hinsicht korrumpiert: indem sie den Sachbezug der Worte der rhetorischen Brillanz geopfert und indem sie den Angeredeten zum bloßen Objekt der Manipulation degradiert haben. Damit aber ist die Sprache als „Medium der geistigen Existenz“ (Pieper) in doppelter Hinsicht tiefgreifend verdorben.

In dieser Kritik wird bereits ex negativo deutlich, was Platon und, ihm folgend, auch Josef Pieper als das Wesen der Sprache betrachten: Diese ist das Medium, das als Zeichen auf die Wahrheit der Dinge verweist und deshalb einem anderen Menschen eben diese Wahrheit mitteilen kann, sodaß der andere ihrer ebenfalls ansichtig wird.

Der Verlust des Sachbezugs der Rede und der Verfall ihres Mitteilungscharakters gehen Hand in Hand. Der Sophist Gorgias im gleichnamigen platonischen Dialog ist ein Nihilist: Er leugnet die Existenz einer objektiven Wahrheit und versteht die Sprache als Mittel im Kampf der Machtinteressen, als Instrument der Tyrannei, das den Angesprochenen manipuliert und ihn zu Hörigkeit und Abhängigkeit verführt.

Pieper weist nun darauf hin, daß der Mißbrauch der Sprache als Machtinstrument heute allgegenwärtig ist, in der Werbung, in der Unterhaltungsindustrie und nicht zuletzt in der Propaganda der Herrschenden. Diese Propaganda impliziert ein Moment der Drohung, über das Pieper schreibt: „Freilich besteht die Meisterschaft des propagandistischen Wortgebrauchs eben darin, die Drohung nicht nackt hervortreten zu lassen … Dem Bedrohten wird leicht gemacht, zu glauben, er tue, indem er sich einschüchtern läßt, in Wirklichkeit das an sich selbst Vernünftige und Richtige und übrigens auch das, was er selber ‚eigentlich‘ sowieso will.“ Solche Propaganda ist nach Pieper stets ein Vorbote totalitärer Systeme und der physischen Gewalt gegen Dissidenten.

Die große Gefahr, die Pieper mit der modernen Propaganda heraufziehen sieht, ist die Errichtung eines Reiches der Lüge, das sich gegen die Wahrheit so weit abgedichtet hat, daß nicht einmal ihr Fehlen, ihre Abwesenheit noch bemerkt wird. Damit wird die Wahrheit nicht nur unauffindbar, sondern, wie Pieper formuliert, sogar „unaufsuchbar“; die Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins, die Pieper ebenso wie Platon im Erkennen und Tun der Wahrheit sieht, ist so gefährdet wie nie zuvor. Am Schluß seines 1969 erschienenen letzten Werkes Moral und Hypermoral hat auch Arnold Gehlen vor dieser Entwicklung gewarnt mit den Worten: „Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. … Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“ Es bedarf kaum des Hinweises, daß die gegenwärtige „Akademie“ (auch wenn das Wort platonischen Ursprungs ist) hier nur wenig Hilfe bietet.

 

 

Die Bedrohung des Totalitarismus: Kommt der Antichrist?

 

Piepers Aufsatz mit dem Titel „Über die Kunst, nicht zu verzweifeln“ zeigt mit seinen Überlegungen zum Ende der Geschichte: Die schreckliche Bedrohung, welche die Ausweitung der Propaganda und der Manipulationsmöglichkeiten der Herrschenden mit sich bringt, wird in ihrer ganzen Schwere und ihrem ganzen Ernst erst aus einer christlichen Perspektive bewußt. Gemäß der Johannesapokalypse steht am Ende der Geschichte das Reich des Antichristen, das als weltumspannender Totalitarismus angekündigt wird.

Während man im 19. Jahrhundert noch auf den Fortschritt in Richtung eines irdischen Paradieses hoffen konnte, haben die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hier für nahezu vollständige Desillusionierung gesorgt. Auch die Möglichkeit einer nicht nur lokal begrenzten, sondern umfassenden Kontrolle, Überwachung und Manipulation erschien bereits im 20. Jahrhundert zumindest am Horizont, wie Pieper mit den Zitaten einiger Zeugen wie Aldous Huxley, Robert Oppenheimer und Hermann Rauschning belegt. Der Theologe Ignaz von Döllinger konnte 1860 eine weltweite Verfolgung und Unterdrückung, wie sie in den Prophezeiungen vom Antichristen angekündigt werden, noch als undenkbar bezeichnen. Diese Einschätzung erschien Pieper 1974 nur noch naiv – und rund fünfzig Jahre später erscheint sie angesichts der technischen Entwicklungen sogar noch blauäugiger.

Pieper warnt besonders vor einem „gewaltlosen Totalitarismus“, der seine manipulative Propaganda perfektioniert hat und „jederzeit mit scheinbar guten Gründen bestreiten kann, das zu sein, was er wirklich ist“. In dieser Form ist heute das Reich des Antichristen eine reale und schon in Umrissen sichtbare Möglichkeit zukünftiger Entwicklung. Dieses Reich ist kein äußeres Verhängnis, sondern ein Gefängnis, in das der Mensch sich selbst einzumauern im Begriff ist.

Wie kann man angesichts dieser Bedrohung weiterhin die Tugend der Hoffnung kultivieren? Auch hier kann, wie Pieper zeigt, nur eine christliche Perspektive den Horizont offenhalten und vor Verzweiflung bewahren. Denn christlich betrachtet ist die Hoffnung nicht auf ein irdisches Reich und irdisches Glück gerichtet, sondern auf eine letzte und endgültige Stillung des Menschen jenseits der Todesgrenze – nicht als Vernichtung, sondern als Erfüllung und Vollendung der irdischen Existenz. Die Hoffnung bezieht sich, christlich verstanden (und anders als etwa Ernst Bloch meinte), nicht auf das Planbare und vom Menschen Realisierbare, sondern auf etwas, das wir nicht selbst machen können. Durch die Tugend der Hoffnung kann uns die Kunst zuteil werden, nicht zu verzweifeln – selbst dann nicht, wenn durch Propaganda und Totalitarismus dem Menschen die äußerste Gefahr droht. Mit den Worten des Hebräerbriefs: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Gerade die hier genannte Zuversicht kann uns auch zur klugen Gestaltung des Sichtbaren und im Ernstfall zum Widerstand befähigen. Das „Diesseits“ bleibt aber stets als Vorletztes und Vorläufiges bewußt.

 

 

Abbildung: Ausschnitt aus dem Gemälde Die Predigt und die Taten des Antichristen (1502) von Luca Signorelli (Wikimedia Commons)

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.