LOGBUCH XLVI (1. Mai 2023). Von Till Kinzel
Das kulturelle Gedächtnis ist oft ungerecht. Schriftsteller, Künstler und Denker, die es nicht verdient haben, werden vergessen, obwohl sie über ihre Zeit hinaus Impulse vermitteln könnten. So auch im Falle des im Jahre 1921 aus Ungarn gebürtigen Philosophen Thomas (Tamás) Molnar, dessen 100. Geburtstag weitgehend unbeachtet blieb. Glücklicherweise haben sich zwei junge Philosophen, Jan Bentz und Jochen Prinz, an Molnar erinnert. Erstmals wird in ihrem Buch ausführlich der Kern von Molnars Denkens herausgeschält und in philosophischer, politischer, theologischer sowie metaphysischer Hinsicht erörtert.
Molnar kann als ein Vertreter konservativen Denkens angesehen werden, der sich trotz seines Exils in den USA nicht mit dem identifizierte, was man heute Neokonservatismus zu nennen pflegt. Viel mehr einte ihn dagegen mit stärker europäisch orientierten Autoren wie Russell Kirk, der sich wie Roger Scruton nicht zuletzt von Edmund Burke inspirieren ließ.
Molnar verstand sich als Vertreter der Tradition und ihrer Autorität, weil für ihn Kirche und Staat ohne eine solche Autorität nicht im Einklang mit den wahren Bedürfnissen der Menschen stehen können. Die Bejahung der Tradition machte Molnar zugleich zu einem entschiedenen Konterrevolutionär, und das wiederum bedeutete im revolutionären 20. Jahrhundert ein Leben jenseits des Hauptstroms politischen Denkens. Nachdem er früh das kommunistisch gewordene Ungarn verlassen hatte, fand er Zuflucht in den USA, aber in seinem Denken bewahrte er gegenüber dem dortigen Konservatismus immer eine gewisse Distanz: Molnar war ein Alteuropäer von echtem Schrot und Korn, der die Auseinandersetzung um das Gute und Richtige im Geistigen und Politischen nicht scheute, weil es ihm um die Weitergabe des Wertvollen in der Tradition ging.
Molnar war frankophil, was ihn durchaus in die Nähe eines Charles Maurras brachte, der jedoch letztlich ein Atheist blieb. Molnar dagegen wurde vor allem durch den französischen Renouveau catholique geprägt; seine Dissertation widmete er dem politischen Denken des Schriftstellers Georges Bernanos und dessen Entwicklung von einem reaktionären Royalisten zu einem religiösen Antifaschisten. Je mehr sich Molnar im Laufe der Jahre wieder seinen katholischen Ursprüngen annäherte, umso wichtiger wurde ihm Thomas von Aquin.
Von bleibender Bedeutung sind vor allem drei Gedanken Molnars: Erstens hat er die Frage nach dem Sinn von Autorität, die vielen als entbehrlich erscheint, gestellt und beantwortet. Zweitens hat er das utopische Denken auf den Prüfstand gestellt. Drittens hat er sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche beschäftigt und dabei immer an einem Realismus festgehalten, der den Anschluss an die philosophia perennis sucht und findet. Molnar kritisiert die Entsakralisierung des Raumes, die sich aus der mechanistischen Philosophie ergebe, so dass der Mensch zum bedeutungslosen Sandkorn werde. Die geschichtlich einmalige Situation unserer Zeit bestehe in einer Blockade gegen alles Übernatürliche, was nichts Geringeres bedeute als die wissentliche und willentliche Ausblendung der tiefsten Wirklichkeit.
Auf der Basis seiner zutiefst katholischen Perspektive, die zugleich gegen den Gedanken und die Praxis der Revolution gerichtet war, entwickelte Molnar die wohl konsequenteste Kritik an allen politischen Utopien. Denn wenn auch das utopische Streben gleichsam aus der Natur des Menschen resultiere, so sei doch die Utopie selbst eine Ketzerei. Denn sie versuche stets, die Grenzen des irdischen Menschseins und damit die Entfremdung insgesamt aufzuheben, was aber nur im Jenseits wirklich gelingen könne. Die Utopie ist daher im strengen Sinne für Molnar gar nicht von der Dystopie zu unterscheiden – denn die Utopie selbst ist es, auch und gerade wenn sie gut gemeint ist, die ins Unheil führt.
Der Traum der Utopie führe zur Leugnung Gottes und zur Selbstvergöttlichung des Menschen, worin im präzisen Sinne die Häresie (Ketzerei) der Utopie bestehe. Wie bei Eric Voegelin ist für Molnar die utopische Sicht auf die Geschichte identisch mit dem Versuch, die Unsicherheiten und Zweideutigkeiten der menschlichen Existenz aufzuheben. Die auf Überwindung von Grenzen und von Entfremdung zielende utopische Geisteshaltung akzeptiert den Menschen nicht so, wie er ist, nämlich von der Erbsünde gezeichnet. Dies gilt auch für den neuesten Utopismus, der sich als „Transhumanismus“ einer irdischen Überwindung des gefallenen Menschen verschrieben hat. Auch der sogenannte Great Reset gehört dazu. Wer Molnars Utopiekritik gründlich verstanden hat, weiß darum, wie eitel und gefährlich auch der Transhumanismus ist. Seine Verwirklichung wäre die neueste Form der Dystopie, eines schlechten Lebens ohne Gott und mit einer verkümmerten Seele.
Nur vier von Molnars Büchern sind jemals in deutscher Sprache erschienen, darunter der Klassiker Kampf und Untergang der Intellektuellen (1966) sowie Sartre – Ideologe unserer Zeit (1970), die Polemik Die Linke beim Wort genommen (1972) sowie ein Buch über Bildungsfragen. Der Band von Bentz und Prinz schärft das Denken und bietet eine Fülle von Anregungen für eine Analyse unserer politischen und spirituellen Lage. Er möge aber auch als Anregung wirken, Molnars vielleicht wichtigstes Buch über das utopische Denken als immerwährende Häresie in einer deutschen Übersetzung herauszubringen. Denn der utopische Traum prägt auch heute wieder auf ungute Weise das politische Denken und schafft damit erhebliche Probleme für das konkrete Wohlergehen der Menschen im Hier und Jetzt.
Jan Bentz, Jochen Prinz (Hg.): Einer, der nicht nach Utopia wollte. Thomas Molnar zum 100. Geburtstag. Mainz: Patrimonium 2022, Paperback, 160 Seiten, 25 Euro.