Süßer Wehmut Abgesang – Martin Mosebachs neuer Roman

LOGBUCH XXXVI (4. Dezember 2022). Von Beate Broßmann


„Je veux le manger“ („ich will ihn essen“), soll die Tochter des Hauses De Kesel, Paula, gesagt haben, nachdem ihr mitgeteilt worden war, daß ihr liebstes Spieltier, ein Ziegenböckchen, aus dem Haus und zu den Tieren gebracht werden sollte. Man tat, wie geheißen, und das sechsjährige Mädchen kaute mit unbewegtem Gesicht ihr Ziegenbockragout.

Ihre Mutter Marjorie nannte es darob ein monströses Kind, ein undurchschaubares, geheimnistuerisches und zur Grausamkeit fähiges Kind. Im Moment der Ziegenverspeisung wußte die Mutter: Ich habe die Herrschaft über meine Tochter verloren. Und später prophezeite sie Paula, daß deren Tochter Nike noch viel Unglück bringen werde. (Schon allein aufgrund der Existenz dieses Kindes bewahrheitet sich diese Vorhersage – aber die Rezensentin möchte nicht „spoilern“.) Marjories zweiter Ehemann Ruprecht beobachtet angelegentlich einige Tauben beim Baden in einer Pfütze. Da kommt Nike, klatscht in die Hände – und weg sind sie.

Paulas Freund klagt: Nike werde zwar von Musik angelockt, aber nur, um sie kaputtzumachen, so wie sie Blumen zerreißt, einen Kuchen anbeißt und dann wegwirft, ein Gespräch unter Erwachsenen unterbricht. Das Kind ist destruktiv. Es ist das Produkt einer Generation von Erziehungsverweigerern, das Produkt von Imperativen der Negation: Keine Dressur, keine Leistungsanforderungen, keine Disziplin und keine Strafen.

Nike heult erst dann kräftig los, wenn sie sicher sein kann, daß ihr ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zuteil wird. Ein Besucher spricht von ihrer „bösartigen Weise, hübsch zu sein“. Und Ruprecht wird der Spruch in den Mund gelegt „Ich kann mich nicht mit Kindern abgeben; diesem dummen Egoismus und der infantilen Erpressung fühle ich mich nicht gewachsen.“ Zwei Gäste unterhalten sich: „Du magst das Kind also auch nicht, […] niemand scheint es zu mögen. Das versucht die Mutter mit vierzehnfachem Aufwand wettzumachen. Es bekommt dadurch das Gefühl, immer auf der Siegerseite zu sein, denn es weiß genau, daß vor Paula alle Angst haben und auf Katzenpfoten gehen.“ Dieses Kind wird ausschließlich von Paula verwaltet, wie der Autor süffisant formuliert.

Mosebach zieht seine Sicht auf „das Kind“ durch. Sie war schon in anderen Romanen des Autors zur Sprache gekommen. Die Sicht oder das Empfinden des Kindes hingegen thematisiert er nicht. Es geht ihm eben nicht um Psychologie, sondern um Wahrnehmung, um das Aufnehmen von Eindrücken. Dafür liefert Mosebach auch gleich das passende Credo mit: „Das Denken war von Übel, auch das Starren auf die alten Texte, um sie zu deuten, zu vergleichen, zu unterscheiden. Wichtig war nur das Sehen – wortloses Sehen von Körpern, menschlichen und tierischen, von Licht und Schatten, das Verweilen in solcher Betrachtung.“

Aber nicht erst die Generation der Kinder und Halbkinder fällt aus jeder Norm – befallen sind auch deren Eltern. „Eine gewisse Verdrossenheit gehört heute zum Auftreten junger Leute.“ Das Zeigen von Enthusiasmus, guter Laune und Liebesglück sei verpönt. Die leicht strapazierte Zerstreutheit ließe nicht mehr auf die Euphorie glücklicher Verliebtheit schließen. Galanterie würde von ihnen verachtet, wenn nicht inkriminiert. Und: „Man sammelt nichts mehr an, man besitzt nichts, das sind alles aus der Zeit gefallene Verhaltensweisen. Wer Kunst sehen will, geht in eine Ausstellung, aber kauft so etwas nicht … das ist was für geistlose Vermögensanhäufer.“

Von der Beschreibung des Verhaltens der Nachkommen leitet Mosebach zur Kritik der modernen Lebensweise über: Reisen sei etwas für Spießer geworden, die Welt weitgehend gleichförmig. Allüberall dieselben Produkte, dieselben Hotels, dieselben Behindertentoiletten, dieselben Geldautomaten, dasselbe falsche Englisch.

Alles Besondere, im guten Sinn Elitäre fällt – sowohl aus ökonomischen als auch aus ideologischen Gründen – der Nivellierung anheim und löst sich auf. Ruprecht ist Verlagsleiter und „einer der wenigen verbliebenen Verlegerpersönlichkeiten alten Schlags“, sein Verlag selbst ist ein „schöner“, der „letzte richtige Verlag“, wie man in literarischen Kreisen voller Hochachtung formuliert. Aber mit diesen Eigenschaften – denen des Menschen und denen des Verlages – ist kein Geld mehr zu verdienen. Andauernde finanzielle Knappheit läßt Ruprecht kapitulieren. Der Verlag wird nun von einem Pragmatiker geführt.

Selbst die heute Sechzigjährigen können ihren Widerstand gegen die Zumutungen der Gegenwart nicht durchhalten. Die Gleichgültigkeit in Stilfragen ist ansteckend. Schon unter Cornelius De Kesel hatte die Eßkultur gelitten: Die Küche war und blieb einfach, um nicht zu sagen jämmerlich bis ungenießbar. Die Formen, die Zeremonie als solche, werden noch streng nach den Vorschriften des Ahnen eingehalten, aber die Speisen stellen „keine unüberwindliche Versuchung für den Gaumen“ dar. Essen ist weder für Marjorie noch für Tochter Paula mit Freude oder gar Lust verbunden.

De Kesel Senior hatte auch zu einer gewissen Nachlässigkeit geneigt, der man als Leser das Konzept der Vintage-Mode unterstellen könnte: „Gepflegte Gärten seien kleinbürgerlich, bei ihm müsse es so aussehen, als sei da einmal etwas angelegt worden, was aber allmählich von der Natur zurückerobert werde.“ Zur Vintage-Hypothese paßt auch die Ausgestaltung des Gästezimmers: Messingbett, Waschkommode mit Fayence-Schüssel und großer Kanne, bäuerlicher Alkoven mit geblümten Vorhängen. Patina und Lässigkeit werden vervollkommnet von einem Wasserfleck an der Zimmerdecke. „Man mußte sich […] trauen, Räume einfach so lange sich selbst zu überlassen, bis sie ein Eigenleben entwickelten.“

Ein Eigenleben entwickeln auch erotische Beziehungen: Marjorie schläft mit dem Hausverwalter Damien, der im Pförtnerhaus lebt. Als sie das Grundstück eine ganze Zeitlang allein bewohnt, zieht Damien zu ihr ins Schloß. Das Personal war entlassen worden, und was sich jetzt ereignet, kann man als eine Orgie der Formlosigkeit bezeichnen: An Hausarbeit nicht gewöhnt, lassen die beiden das Haus verkommen. „Schluß mit den Regeln! Mit Damien ein Hippieleben führen, eine Schlamperei bis hin zu leichter Unsauberkeit: ein Abwerfen von allem, was sie bisher für selbstverständlich gehalten hatte. Das würde ich nie tun, das könnte ich nie tun, sowas ertrage ich nicht – solche Gewißheiten waren nur ein dünner Film über dem Menschen, leicht hinwegzuwischen.“

Von ihr selbst unbemerkt, hatte sich Marjorie in Damien verliebt. Als dieser ihr eröffnet, er werde zurückgehen in seine Heimat England, ist sie fassungslos und fragt bestürzt, ob diese Jahre ihres Glücks und ihrer Liebe, des Ausdrucks ihrer Freiheit verlorene Jahre für ihn gewesen seien. Und sie muß sich belehren und schockieren lassen: Für ihn waren seine Minnedienste nichts anderes und nicht mehr als ein weiterer Punkt seiner Dienstpflichten gewesen. Aber auch sie hatte ihr Lieblingstier – im übertragenen Sinn – verspeisen wollen.

Dies sind nur einige von vielen Themen, die der Autor ausführt oder auch nur anreißt und die den Roman zu einem Kaleidoskop der Abgründigkeit und der Verluste werden lassen. Es geht um die Ehe und deren innere Dynamik, um Kitsch, um Tiere und um vieles mehr. Das ist keine Übertreibung: es geht um sehr viel. Wahrscheinlich um alles.

Und das viele bewegt sich durch den Roman in der Form eines Bildes, eines Ölgemäldes von 1884: „Tote Feldtaube und Wildente“ von Otto Scholderer. Wie der Autor dieses Motiv durch den Roman trägt, es immer wieder aufnimmt und von einer neuen Seite beleuchtet – was auch im buchstäblichen Sinne zu verstehen ist – wie Verhalten und Verhältnisse im Umgang mit ihm plastisch-verräterische Züge gewinnen – das ist die hohe Kunst der Literatur.

Ja, dieser Roman ist ein Kunstwerk. Er ist Ausdruck der Altersmilde, der Klugheit und der Weisheit des Autors. Allenthalben trifft man auf philosophische Sentenzen, die sich aus dem Textbuch erheben und sich über die Welt legen wollen: „Wie oft bei Restauration [von Liebesbeziehungen – d. Verf.] kehrte das Verhältnis nicht zu dem zurück, was man Unschuld hätte nennen dürfen. Gewisse Gedanken, einmal gedacht, hinterließen Narben, die gleichsam tastbar blieben, sobald eine stille Stunde Nachdenken zuließ.“ – Da weilt noch einer unter uns, der denken und schreiben kann wie ein Großer: ein großer Mensch und ein großer Dichter. Er verweigert die Zeitgenossenschaft und zieht die Zeitzeugenschaft vor. Er ist Chronist. Seine Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seine Bücher sind Trost und Widerstand in einem. Aber er weiß es selbst: „Auch der Beste kann die alte Kunst nicht mehr retten“.
Und auch nicht die Liebe. Sie hat ihren Urgrund verloren. Der Autor bietet uns eine Alternative an: vertrauensvolle Kameradschaft. Das klingt nach salzfreier Schonkost, ist in Wirklichkeit aber das Ergebnis tiefer Einsicht, wie man sie nur in der Ehe gewinnt: ein Zweier ohne Steuermann in schwerer See.

Möge dieser Roman viele Leser finden, die sich bereichert und inspiriert fühlen, möge er helfen, den großen Abschied, den wir in der Gegenwart nehmen – ob wir es wissen oder nicht –, den Abschied von der bürgerlichen Kultur, in allen ihren Facetten, in Würde und mit Wehmut, melancholisch, aber in der Seele ungebrochen zu vollziehen. Die „Buddenbrooks“ markierten den Anfang vom Ende als Tragödie. Vielleicht schildert Martin Mosebach den Verfall in seinen letzten Zügen: als Farce.


Martin Mosebach: Taube und Wildente. Roman. DTV, München 2022. 336 Seiten, EUR 24,00


Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, Philosophiestudium, Publikationen bei Anbruch und TUMULT

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