Maß und Wahn – Walter Scott über E.T.A. Hoffmann

LOGBUCH XXXIV (1. Oktober 2022). Von Beate Broßmann

 

Zunächst möchte ich bekennen, daß ich weder eine Spezialistin in Sachen englisch-schottischer noch in Sachen deutscher Romantik bin – eine Liebhaberin dieser subjects hingegen schon. Wenn man ein Buch zur Hand nimmt, in dem ein großen Dichter der Wende zum 18. Jahrhundert einen anderen großen Dichter derselben Zeit vorstellt und kritisiert, sieht das zunächst nach einem Orchideen-Thema aus. Auf dem Weg hin zu buchfreien Zeiten, da Lesen zur Angelegenheit feinschmeckender Liebhaber in geistig-kulturellen Nischen wird, fragt man sich schon: Wer außer den literaturwissenschaftlichen Leuten vom Fach wird das lesen? Und dann liest man sich fest und staunt über die unerwartet aktuelle Thematik dieser Trouvaille.

Doch zunächst zum Aufbau des Büchleins: Drei Texte, die gleichzeitig drei Texttypen verkörpern, bilden den Inhalt. Der erste nach der Vorbemerkung ist der vollständige Essay „Vom Übernatürlichen in fiktionalen Werken; und insbesondere in den Werken Ernst Theodor Wilhelm Hoffmanns“ von Walter Scott, erstmalig erschienen 1827, also fünf Jahre nach Hoffmanns Tod. Ihm folgt die fünfseitige Verarbeitung dieses Textes durch den dritten Zeitgenossen, Johann Wolfgang von Goethe, die auch erst ein Jahr nach dessen Tod erstmals erschien. Abgerundet wird das liebevoll mit Illustrationen zu Hoffmanns Erzählungen versehene Büchlein durch ein geistig gehaltvolles und informatives Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Till Kinzel sowie weiterführende bibliographische Hinweise.

Den roten Faden aller Texte bildet die Frage nach dem Charakter des Übernatürlichen und dessen adäquater literarischer Darstellung. Zu Beginn seiner nachgerade wissenschaftlichen Charakter tragenden Abhandlung definiert Scott das Phänomen der Liebe zum Übernatürlichen: „Der Glaube selbst, obwohl er leicht in die Richtung des Aberglaubens und der Absurdität gedrängt werden kann, hat seinen Ursprung nicht nur in den Tatsachen, auf denen unsere heilige Religion gründet, sondern in den Prinzipien unserer Natur, die uns lehrt, daß wir gleichzeitig auf Bewährung in dieser sublunaren Welt leben und Nachbarn jener Schattenwelt sind, von der wir umfangen werden und deren Gesetze wir mit unseren schwachen geistigen Kräften nicht verstehen können, während unsere körperlichen Organe zu grob und roh sind, um ihre Lebewesen wahrzunehmen.“ (S. 9f.)

Scott selbst ist also kein Leugner übernatürlicher Kräfte, und er bedauert, daß mit dem Fortschreiten des Wissens in der aufgeklärten Epoche die Wundergläubigkeit nachlasse und sogar mit dem „Fabelhaften“ und mit Wahnvorstellungen in eins gesetzt werde. Allein die katholische Kirche halte an der Überzeugung fest, daß auch in der (damaligen) Gegenwart Wunder geschähen.

Im Weiteren entwickelt Scott eine Art Wirkungsästhetik bzw. -psychologie, die ein Dichter des Grauens und der Geheimwelt beachten müsse, um seine Geschichten einerseits nicht zu künstlich und andererseits nicht zu trivial zu konstruieren. Das Übernatürliche müsse mit Raffinesse gestaltet werden, und zwar dergestalt, daß die Phantasie der Leser angeregt, aber nicht befriedigt werde. So gehöre es unbedingt zu Gespenster- und Geistergeschichten, daß sie in „umsichtiger Dunkelheit“ und „düsterem Prunk“ (S. 15) stattfinden. Alles müsse „dunkel, unbestimmt, verworren, schrecklich und erhaben“ gestaltet sein.

Scott fährt mit einer vergleichenden Betrachtung der verschiedenen Arten moderner Schauergeschichten fort. Er unterscheidet Geschichten, die auf die Phantasie der Leser zielen, von denen, die deren Imagination fordern. Erstere bilden das Genre der Unterhaltung, letztere erregen sowohl die Gefühle als auch das Interesse des Verstandes. Er hebt das große Verdienst hervor, das den Gebrüdern Grimm mit ihrer Sammlung von Traditionen des Volksaberglaubens in den verschiedenen Teilen Deutschlands zukommt. Dies ist allerdings ein soziologischer Blick, kein romantischer.

Feen, Genien, Riesen, Monster, Dämonen, Geister – das sind die dramatis personae von Geschichten, die uns das Fürchten und das Gruseln lehren und schauderndes Interesse wecken sollen, aber – auch hier warnt des Dichters Verstand – nicht übertreiben, nicht überzeichnen: gar zu schmal ist der Grat, der zur unfreiwilligen Satire und Belustigung führt!

Über dieses siebenunddreißigseitige Referat der Grundlagen und Grundsätze der fiktionalen Darstellungen von Wunderbarem und Übernatürlichem nähert sich Walter Scott seinem eigentlichen Thema, der Analyse der Hoffmann’schen Geistergeschichten. Scott konstatiert zunächst eine besondere „Anhänglichkeit der Deutschen an das Geheimnisvolle“, was umso seltsamer wirkt, als er nur drei Vertreter der deutschen Schauerliteratur benennt (Fouqué, Chamisso und Hoffmann), aber unzählige englischsprachige.

Gemäß seiner Einordnung sieht Scott das Werk Hoffmanns als phantastische Unterhaltungsliteratur an. Und dann zieht er vom Leder, und zwar nicht auf literaturwissenschaftliche, sondern auf psychologische Art und Weise. Er erstellt eine Art Psychogramm und argumentiert ad hominem, ja pathologisiert das Werk des deutschen Schriftstellers regelrecht: Hoffmann habe wohl über einige Begabung verfügt, sei ein Dichter, ein Künstler und ein Musiker gewesen. Die Imagination aber habe ihn zu den höchsten Graden der Seltsamkeit und der Bizarrerie getrieben. Seine hypochondrische, launenhafte Disposition, die Hochstimmungen und Depressionen in ständigem Wechsel hervorgebracht habe, habe seine Werke zu „phantastischen Extravaganzen“ werden lassen (vgl. S. 46f.). Der deutsche Dichter sei dem Wahnsinn, den er selbst beschrieben habe, sehr nahe gekommen. Seine Einbildungskraft sei unharmonisch gewesen und habe eine „ungute Neigung zum Schrecklichen und Quälenden gehabt“ (vgl. S. 63). Die beträchtlichen Mengen an Alkohol und Tabak hätten auch nicht zur Mäßigung und Linderung des Nervenleidens beigetragen, vermutet Scott. Hoffmanns Geschmack sei von solch seltsamer Verirrung geprägt gewesen, daß er das Übernatürliche mit dem Absurden verwechselt habe. Ein besserer Geschmack und eine fundierte Urteilskraft seien ihm zu wünschen gewesen. „Es ist nicht verwunderlich, daß in einem Geist, der so leicht der Einbildungskraft unterliegt und so wenig unter der Herrschaft der nüchternen Vernunft steht, eine solche Reihe von Ideen auftauchen sollte, in denen die Phantasie eine so große Rolle und die Vernunft keine spielte“ (S. 64). Scott bedauert, daß Hoffmann offenbar keine Aderlässe und Abführmittel benutzt habe: Gepaart mit einer gesunden Philosophie und exakter Beobachtung hätte dieser mit solchen Maßnahmen den Gipfel der poetischen Berufung erreichen können (vgl. S. 99). Und als sei dies noch nicht genug an pädagogischer Zurechtweisung, macht er dem Dichter zum Vorwurf, daß er kein Werk historischen Charakters geschaffen habe – sei er doch Zeitzeuge der Schlachten von Dresden und Leipzig im Krieg gegen Napoleon gewesen und sicherlich ein großer Patriot. Für eine solche Schilderung hätte die Menschheit gern auf einige Teufel und Geister aus der Hoffmann’schen Phantasiewelt verzichtet, so Scotts Überzeugung (vgl. S. 54f.).

Der gesamte Textteil zu Hoffmann enthält starke Redundanzen und wirkt, als suche Scott immerzu nach neuen Argumenten für die Abwertung des deutschen Dichters. Er ist in einem aufklärerisch-erzieherischen Ton gehalten, den belehrende Menschen häufig gegenüber ihren angeblich verirrten Schafen anschlagen und der überheblich wirkt. Im Grunde sagt er nichts anderes, als daß der romantische Dichter E.T.A. Hoffmann es genauso hätte halten sollen wie er selbst, der Begründer des historischen Romans.

Auch Goethes Kurzdarstellung verrät eher Ungeduld und fehlende Einsicht als Anerkennung des Besonderen und Eigenständigen seines Landsmannes: Der „kranke Zustand seines zerrütteten Wesens“ (S. 102) habe verhindert, daß aus Hoffmann ein großer Schriftsteller geworden sei. Zustimmend gibt er Scotts Verdikt wieder: „Seine Werke jedoch, wie sie gegenwärtig liegen, dürften nicht als Muster der Nachahmung aufzustellen seyn, viel mehr als Warnungstafeln, die uns anschaulich machen, wie die fruchtbarste Einbildungskraft erschöpft werden kann durch einen leichtsinnigen Verschwendungstrieb des Besitzers.“ Ähnlich hatte er, ein Mann von Maß und Mitte, schon über Heinrich von Kleist geurteilt. Als geglücktes Pendant empfiehlt Goethe, sich das Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ der Gebrüder Grimm zum Vorbild zu nehmen.

Das kurzfristige Ziel, eine zeitgenössische Leserschaft zu begeistern, wie es Walter Scott gelang, mag Hoffmann verfehlt haben. Die langfristige Wirkung, bis hinein in die Gegenwart, gebührt aber ihm und nicht dem heute in Deutschland beinahe vergessenen Schriftsteller Walter Scott.

In seinem Nachwort geht Till Kinzel der Wirkungsgeschichte Hoffmann’scher Erzählungen im europäischen, vor allem im deutschsprachigen, Kulturraum in dankenswert ausführlicher und kenntnisreicher Weise nach. Er streift hierin auch die Rolle, die E.T.A. Hoffmann für die DDR-Künstler gehabt hat. Man könnte seine Ausführungen ergänzen, indem man darauf hinweist, daß 1978 im Aufbau Verlag seine Gesammelten Werke in Einzelausgaben zu sieben Bänden erschienen sind. „Das Fräulein von Scuderi“ (1955) und „Die Elixiere des Teufels“ (1973) wurden von der DEFA verfilmt. 1970 erschien die Verfilmung einer Inszenierung der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach, ebenfalls ein DEFA-Werk. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil es in der Diskussion um die Aneignung des kulturellen Erbes der DDR die Klassik war, auf die man sich positiv bezog. Mit der Romantik hatte man Probleme. Gar zu sehr ging es hier um den Einzelnen, den gemarterten oder auch den verträumten. Und die sozialistische Gesellschaftsordnung war ihrem Selbstverständnis nach nun einmal eine Inkarnation des aufgeklärten Verstandes. Regimekritik konnte sich dieses Teils des Erbes bedienen und tat dies auch mit großem Publikumserfolg. Zu nennen ist hierbei besonders das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf. Die Klassik-Front repräsentierte der auch in Westdeutschland bekannte Schriftsteller Peter Hacks.

Der große Erfolg, den Fantasy- und Horrorspiele und -filme heute verzeichnen, zeugt vom Bedürfnis vieler und meist junger Menschen, zeitweise in Sphären zu leben, die von der Megamaschine (Rudolf Bahro), dem beinharten Gestell (Martin Heidegger) scheinbar noch nicht eingemeindet worden sind. „Scheinbar“, weil diese Art des Eskapismus keine tatsächliche Alternative zum ungeliebten Status quo ist, sondern vom Establishment regelrecht forciert wird. Sie ist in dessen Augen eine Erscheinungsform des Opiums für das Volk.

Sir Walter Scott: E.T.A. Hoffmann und das Übernatürliche. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Till Kinzel. Karolinger Verlag 2022. 136 Seiten, EUR 22,-


Beate Broßmann, 1961 in Leipzig geboren, Philosophiestudium, Publikationen bei Anbruch und TUMULT

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.