„Kentler-Gate“: Ein Blick zurück im Zorn – Erinnerungen eines Pädagogen

LOGBUCH XXXV (7. November 2022). Von Ulrich Kriehn

Die verdienstvolle Hedwig von Beverfoerde, die unter anderem die „Demo für Alle“ in Deutschland organisierte, dabei im Jahre 2016 ein beachtliches Symposium in Stuttgart mit hochkarätigen Wissenschaftlern (Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Raphael Bonelli u. a.) veranstaltete, hat nun eine Dokumentation über Helmut Kentler unter dem Namen „Kentler-Gate“ vorgestellt. Dabei kommen prominente Zeitzeugen zu Wort, etwa die Ulrike Meinhof-Tochter Bettina Röhl, die sich in mehreren Büchern mit der zerstörenden Wirkung der 68er, die sie selbst als Kind am eigenen Leibe erfahren mußte, befaßt hat und die inzwischen fast 100-jährige Christa Meves, die eine der ersten war, die Kentler in den frühen 70er Jahren widersprachen (Buchtitel damals: „Manipulierte Maßlosigkeit“, Herder Verlag 1971). Meves berichtet in der Doku, daß sie mit Kentler bei einer Tagung irgendeiner evangelischen Akademie an einem Kaffeetische saß und ihr Mann, ein habilitierter Augenarzt, nur anmerkte: „Dieser Mann muß krank sein, das sieht man.“

Eine evangelische Akademie … da war Kentler präsent und Stargast. Er hatte beste Kontakte zu den höchsten Kirchenvertretern der evangelischen Kirche, saß in vielen Gremien und  war hervorragend vernetzt in allen meinungsbildenden Kreisen, wie auch der spätere Rektor der Odenwald-Schule, Gerold Becker, der in der evangelischen Kirche ganz oben angekommen und gleichzeitig mit Hartmut von Hentig, einem Starpädagogen der 70er und 80er Jahre, eng befreundet war.

Gut, das war die obere Ebene pädagogischer Theoretiker, aber wie sah es beim Fußvolk aus, das diese Theorien lernen mußte und sie dann auch umsetzen sollte? Ich gehörte damals zum Fußvolk, machte an einer evangelischen Fachschule in Tübingen eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher, und 1977 wurden dort sogenannte „sexualpädagogische Wochen“ durchgeführt, will heißen, ein Woche lang fiel jedweder Unterricht aus und man mußte sich mit „Sexualität“ befassen. Basis des ganzen Spektakels, das übrigens in absoluter Gossensprache durchgeführt wurde (ich lernte einiges, was mir überhaupt nicht vertraut war auf der sprachlichen Ebene, ich war damals jung, idealistisch und sehr gläubig), war das Buch „Eltern lernen Sexualerziehung“ von Kentler, ein Machwerk, das damals sogar als Dissertation durchging, obwohl es keinem wissenschaftlichen Standard, weder inhaltlich noch formal, genügt. Wir mußten das Buch kaufen, es lesen, um entsprechend vorbereitet zu sein für die sexualpädagogischen Wochen; dies mißfiel mir ungemein, ich hatte mir das Buch vorher ausgeliehen und war abgestoßen von Kentlers primitiver Sprache und seinem geradezu manischen Fixiertsein auf einen Punkt – dafür wollte ich mein kärgliches Geld nicht  verwenden. Dabei lebte man damals keineswegs prüde oder verklemmt, im Gegenteil. Aber ich fragte mich mit 20 Jahren ständig: Muß man denn mit Kindern so über dieses Thema reden, wie es Kentler fordert? Und zudem wußte ich von Freud, der den Begriff „Latenzzeit“ geprägt hatte, daß es eine Lebensphase von Kindern gibt, in der sie schlichtweg gar kein Interesse an der Sexualität im Sinne der Erwachsenen haben. Ich überstand die Indoktrination – denn nichts anderes war es, was in dieser Schule getrieben wurde  – einigermaßen, beschaffte mir die Bücher von Christa Meves, die ziemliche Aha-Erlebnisse wurden, und wagte es, im Psychologie-Unterricht freiwillig ein Referat über Christa Meves zu halten, was der strikte Behaviorist an der Fachschule widerwillig akzeptierte … Er rächte sich dann, indem er mir in der nächsten Arbeit eine 5 gab, wodurch meine 1 in Psychologie  auf eine 3 reduziert wurde. Ich wollte das als junger Mensch nicht schlucken, meldete mich bei der  Abschlußprüfung freiwillig zur mündlichen Prüfung in Psychologie an und schaffte mit wilder Wut und bestückt mit Wissen eine 1, somit war ich wieder zufriedengestellt.

Die 1922-jährigen Mitschüler, alles Leute mit mittlerer Reife und einem Vorpraktikum, nahmen die Kentlerschen Ergüsse hin, wobei deutlich wurde, daß manche im Geheimen das blödsinnig fanden, aber es gab auch begeisterte Vertreter der befreiten Sexualität, und in Kinder- und Jugendheimen waren ja Menschen vorhanden, die man nun zu befreiten Wesen erziehen konnte. Und die konnten sich dem nicht entziehen. Im gleichen Jahr machte ich ein  dreimonatiges Praktikum in einem evangelischen Kinder- und Jugendheim. Auf der unteren Ebene (Erzieherinnen, Kinderpflegerinnen) spielte das keine Rolle, auf der mittleren Ebene der Sozialpädagogen mit Fachhochschulabschluß sehr wohl, und auf der oberen Ebene (Erziehungsleitung, Heimleitung, Heimpsychologe) waren die Kentler-Thesen voll angekommen. Der Heimpsychologe, ein ziemlich verwahrloster Charakter von 30 Jahren, der noch nie wirklich etwas mit Kindern zu tun gehabt hatte – er kam wahrscheinlich über das übliche Beziehungsgeflecht, das in der Diakonie überall herrschte, in seine Leitungsposition –, verteilte einmal auf einer Erzieherbesprechung ein Blatt mit den Thesen eines österreichischen Psychoanalytikers namens Bornemann, der allen Ernstes schrieb: 34-jährige Kindern hätten schon untereinander vollendeten Geschlechtsverkehr, das sei durch Kinderärzte bestätigt. Viele Jahre später erfuhr ich, daß dieser Psychoanalytiker wohl irgendetwas mit pädophilen Kreisen zu tun hatte. Das war damals ein Grund, daß ich allergisch wurde gegenüber solchen Thesen, die ich, schlichtweg gesagt, als völlig gestört empfand.

Später, in bestimmten Kreisen der evangelischen Jugend, in der ich dann hauptamtlich arbeitete, waren solche Thesen in die Wirklichkeit umgesetzt. Ich erlebte, wie auf einem Pfadfinderlager des VCP (Verband christlicher Pfadfinder) ein „Mitarbeiter“ aber auch permanent sich kleine Jungs zwischen 10 und 12 Jahren auf den Schoß setzte, sie streichelte und küßte. Als ich ihn einmal daraufhin ansprach, sagte er mir strahlend: „Die brauchen das, die brauchen Zärtlichkeit und Körperwärme.“ Im Kollegenkreis konnte man dergleichen nicht ansprechen, da war man gleich als reaktionäres Subjekt (die verwendeten einen anderen Ausdruck, den ich hier nicht wiedergeben will) bloßgestellt und wurde nicht mehr beachtet.  Drei Jahre später las ich in der Zeitung, daß ein „Mitarbeiter“ aus dem fraglichen Pfadfinderstamm wegen Verführung Minderjähriger vor Gericht gekommen sei. Mich wunderte nichts mehr, ich war längst von einer üblen Antifa-Clique aus meinem Job rausgemobbt worden, wobei mein Arbeitgeber, das Evangelische Jugendwerk, das wohlwollend unterstützte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und heute, 45 Jahre später? Frühsexualisierung ist fest etabliert, die CDU(!)-Politikerin Ursula von der Leyen brachte als Familienministerin sogenannte Sex-Koffer in die KITAs, was erst nach etwas Widerstand pro forma zurückgezogen wurde, aber das Feld der Pädagogik ist immer noch von den Kentler-Thesen besetzt. Die Doku weist auch darauf hin, daß das mit  dem Tod von Helmut Kentler 2008 keineswegs beendet wurde. Sein Geist oder besser Ungeist ist noch sehr lebendig, und wenn ich mir heute anschaue, welche traurigen Gestalten bisweilen erscheinen, zum Beispiel bei den Gegendemos zu „Demo-für-Alle“-Einsätzen in Stuttgart, dann bin ich überzeugt, daß es sich um bedauernswerte Personen handelt, die in dieser Weise in ihrer Kindheit „zubereitet“ worden waren, um entsprechend zu agieren. Ich war damals 2014–2016 froh, wenn ich heil an den tobenden Antifa- und sonstigen „befreiten“ Gruppen vorbei in Stuttgart den Hauptbahnhof erreichen konnte.

Dem unerfreulichen Thema nähert sich auch der äußerst aufschlußreiche Roman „Das bleiche Erbe der Revolution“ von Sophie Dannenberg, in dem gezeigt wird, wie in einer befreiten 68er-Familie die Kinder gezwungen werden, bei sexuellen Akten ihrer Eltern zuzuschauen und dadurch völlig verstört werden. Ich habe vor zehn Jahren in einer 13. Klasse mal den Roman vorgestellt  (es ging um die 68er-Kulturrevolution), da sagte eine der Schülerinnen, die nicht aus irgendwelchen „engen“ Kreisen kam, fassungslos: „Ja, waren die denn  alle gestört …?“

Es gibt viele Möglichkeiten, den Menschen zu zerstören. Der Gedanke, bei einem der basalen Antriebe, nämlich der Sexualität, anzusetzen, war, von Kentler aus gesehen, genial – genial böse. Er hatte sein Vergnügen, seinen Erfolg, seine Macht – aber andere zahlten und zahlen bis heute teuer dafür. Zu teuer.

 

Hier die Doku „Kentler-Gate“ ansehen.

 

Dr. Ulrich Kriehn, geb. 1957, absolvierte eine Berufsausbildung zum Heimerzieher und war dann Jugendreferent, später Sozialdiakon bei der evangelischen Kirche. Nach Fremdenabitur Studium der Fächer Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Geschichte und Psychologie an der FernUni Hagen neben Beruf und Familie (fünf Kinder), anschließend Promotion in Germanistik. Später Jugendarbeit im öffentlichen Dienst und Lehrer an verschiedenen Schulen; jetzt Rentner.

 

Abbildung: pixabay.com

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