LOGBUCH LXII (15. Juli 2024). Von Beate Broßmann
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Franz Kafkas Prosa erschließt sich dem Leser einzig durch die intellektuelle Tätigkeit des Deutens. Sie wurde zum wohl meistkommentierten Werk des 20. Jahrhunderts, wie Rüdiger Safranski in seiner kürzlich erschienenen literarischen Biographie (Kafka. Um sein Leben schreiben, Hanser Verlag 2024) des Ausnahmeschriftstellers feststellt. Der Grund dafür ist der enigmatische Charakter von Kafkas Werk. Ob Erzählungen oder Romane: Kafkas Texte haben den Charakter von Legenden, Fabeln, Farcen, Grotesken, Märchen, Gleichnissen oder Parabeln und leben von Analogien, Symbolen und Metaphern. Das häufige Vorkommen von Tieren unterstreicht die Zugehörigkeit der Texte zu diesen Literaturgattungen. Das oft benutzte Attribut „surreal“ für Kafkas Prosa verdankt sich der (scheinbar) verfremdeten Darstellung menschlicher Handlungen als absurd, ja regelrecht schlafwandlerisch und unvernünftig. Man ertappt sich beim Lesen immer wieder dabei, wie man den Kopf schüttelt und sich verzweifelt fragt: Warum tut der Protagonist das? Hat er den Verstand verloren? Wo und wie finde ich den Schlüssel zum Verständnis dieser „verkehrten Welt“?
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Einige Kommentatoren und Interpreten legen eine religiöse Deutung von Kafkas Werk nahe. Zu ihnen zählen neben Max Brod, der das Gesamtwerk des langjährigen Freundes nach dessen Tod herausgab, der Religionsphilosoph und Judaist Hans Joachim Schoeps und der Weggefährte Kafkas Felix Weltsch. Auch Gershom Scholem, der Intimus und Biograph Walter Benjamins, legt den Akzent auf die jüdische Komponente, wenn er behauptet, daß man, wolle man die Kabbala verstehen, heutzutage zuerst die Schriften Kafkas gelesen haben müsse, besonders den „Proceß“. Diese Interpreten wollen in Kafka einen gläubigen Juden sehen, der mit seinem Schreiben die jüdisch-religiöse Kultur bereichert hat. Diese Lesart hat gute Argumente auf ihrer Seite, ist aber nur ein Teil der Wahrheit.
Es sind insbesondere die Romane, in denen Kafka mit Motiven des Alten Testaments, der Tora, der Kabbala und des osteuropäischen Chassidismus arbeitet. Talmud, Midrasch, Sagen und Mystik beschäftigen sich mit der Bibelauslegung, und zwar in Form von Legenden, Parabeln, Märchen und Gleichnissen. Zweck der disparaten Erzählformen ist es, die Geschicke des Menschen und der Schöpfung auszulegen. „Der Grundzug ist das Gefühl von einer unabwendbaren Schuld, der alle Kreatur verfallen ist, und das ewige Bestreben, dieser Schuld dennoch ledig zu werden.“ (Micha Josef Bin Gorion über die Sagen der Juden) Kafka wählte die gleichen Erzählformen, die den jüdisch-religiösen Texten eignet. Und der Schuld-Topos spielt bei Kafka ebenfalls eine zentrale Rolle.
Felix Weltsch charakterisiert seinen Freund in der Studie Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas (1957) unumwunden als einen von „körperlichem und vitalem Minderwertigkeitsgefühl“ sowie Angst bestimmten „Neurotiker“. Dessen Werk möchte er dennoch religiös gelesen wissen. Kafka habe „als Dichter eine religiöse Aufgabe erfüllt“. Den Zentralbegriff von Kafkas Religiosität sieht auch Weltsch in der Schuld. Im Roman „Der Proceß“ sei sie der Hauptgegenstand: Vor einem (mystischen) Gericht wird über jeden Menschen – und jeder befindet sich immer im Stand der Schuld – geurteilt: Er wird begnadigt, wenn er imstande ist, eine sittliche Entscheidung zu treffen und den richtigen Weg zu finden. Oder er wird verurteilt, besteht er auf seinem Recht. Freigesprochen wird er niemals.
Die Aphorismen, die Kafka in seinen letzten Lebensmonaten schrieb, sind Spiegel seiner großartigen Fähigkeit zu dialektischem Denken. Weltsch meint, ihr Hauptthema gehöre der „religiösen Problematik“ an. Sie bewiesen, daß Kafka an die Existenz eines ewigen reinen Seins glaube, das er „Sein“, „geistiges Sein“, „das Unzerstörbare“ oder „das Paradies“ nenne. Unsicherheit inmitten des Glaubens an das Unzerstörbare sei Kafkas existenzielles Reich. Dieser Unsicherheit habe er nur im Schreiben, seiner Form des Gebets, Herr werden können. Weltsch führt einige Aphorismen von Kafka als Beweis für seine These an, z. B.: „Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare zu glauben und nicht nach ihm zu streben.“ Mir scheinen Kafkas Aphorismen eher autosuggestive Sentenzen am Rande der Weisheit und am Tor zum Nichts zu sein.
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Meine These lautet: Der deutsche Schriftsteller in Prag hat seine jüdische Identität mit seiner individuellen Eigenart amalgamiert. Er erzählt mit den Mitteln der jüdischen Kulturgeschichte, in der die Religiosität den zentralen Platz innehat, von seiner eigenen tragischen Existenz. Für seine psychische Verfassung und seine Erfahrungen suchte er einen Interpretationsrahmen und fand in jüdischen religiösen und weltlichen Texten das passende Werkzeug. Mit Hilfe narrativer Konstellationen und Motiven aus der alten hebräischen Tradition versuchte er, sich selbst kennenzulernen, zu verstehen und zu verorten. Rüdiger Safranski ist zuzustimmen, wenn er Kafka attestiert, um sein Leben geschrieben zu haben.
Der Dichter projiziert die aus der eigenen Tradition bezogenen Narrative in ihren geistigen Zusammenhängen als Ganzes auf sein Leben. Sie dienen ihm nicht nur als Steinbruch, sondern sind literarische Mittel, um seiner Art des In-der-Welt-Seins auf die Schliche zu kommen. Er legt sie, einer Folie gleich, auf seine Empfindungen und die Verhältnisse und Beziehungen, in deren Netzen er sowohl gefangen als auch aufgehoben ist, und versucht auf diese Weise, Sinn und Bedeutung des eigenen Seins zu ermitteln. Er beschreibt die Menschen und Verhältnisse, wie er sie wahrnimmt, ohne sie zu verstehen. Er findet Bilder für die eigentümliche Art und Weise, in der die Welt auf ihn wirkt.
Denn er selbst ist nur ein Beobachter und Deuter, ein Statist, der kein eigenes Leben hat, sondern – mehr schlecht als recht – die Rolle spielt, die ihm zugefallen ist. Er ist zeitlebens ein Herumirrender, ein Suchender, dem die Orientierung fehlt. Er ist als Außenseiter auf die Welt gekommen und sucht nach seinem Lebensplan, seiner Bestimmung – in der Hoffnung, einmal zu richtigem, eigenem Leben geboren zu werden.
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Kafka hatte ein starkes Bedürfnis danach, ein „normales“, konventionelles Leben zu führen. Er wollte Teil einer Gemeinschaft und Teil einer eigenen kleinen Familie oder wenigstens einer ehelichen Beziehung sein. Und er hatte Sehnsucht nach Gläubigkeit, nach Religiosität. Der liederliche, ja banausische Umgang seiner Familie, und besonders des Vaters, mit ihrem Judentum stieß den zum Perfektionismus tendierenden und Reinheit anstrebenden hochreflektierten und intelligenten Sohn ab. Seine eigenen religiösen Wurzeln waren kontaminiert. Er versuchte es mit der Anthroposophie, mit dem Buddhismus, mit Nietzsche und Kierkegaard. Aber ein ostjüdisches wanderndes Laientheater erst ließ den Funken überspringen. Die arme und ungeliebte Verwandtschaft der Westjuden fasziniert Kafka: wie sie voll und ganz und mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit in ihrer Religion lebte, wie impulsiv und hemmungslos emotional sie sich in ihrer Gemeinschaft bewegte – dieses Judentum war nach des Suchenden Geschmack. Die jiddische Sprache schien ihm ein Jargon des Selbstvertrauens zu sein. Er begann, sich mit jüdischer Geschichte, Religion und dem Zionismus Herzls und Bubers zu beschäftigen. Er lernte Hebräisch, um Originaltexte lesen zu können und sich auf eine eventuelle Auswanderung nach Palästina vorzubereiten, die angesichts von wachsendem Antisemitismus, der sich sogar vereinzelt in Pogromen niederschlug, als Option für viele Juden in Prag galt. In einem Brief an Max Brod bekannte der Dichter, daß die chassidischen Geschichten das einzige Jüdische seien, in welchem er sich augenblicklich und unmittelbar zu Hause gefühlt habe. In alle anderen Formen sei er nur grund- und folgenlos hineingeweht worden.
Doch diese euphorische Identifikation ist ebenfalls nur von kurzer Dauer. Und so blieb Kafka auch nur ein Möchtegern-Zionist. Selbst für dieses Identifikationsmodell fehlte ihm das letzte Gran Überzeugung. Er war die Inkarnation des Menschen der Moderne, ein früh unter metaphysischer Unbehaustheit Leidender. Der Dichter blieb bis zum Ende seines Lebens zerrissen zwischen verschiedenen Polen des Daseins und der Seele: Gemeinschaftsleben und Alleinsein, Glaube und Agnostizismus, Verschmelzung und Isolation, Körper und Geist, Stadt und Land, Verstand und Gefühl.
Nur im Schreiben und im Zusammensein mit seinen besten Freunden – alle sind Autoren und gehören dem deutsch-jüdischen Milieu an – läuft Kafka nicht Gefahr, sich zu verlieren. Mit dem Schreiben hat er einen Weg gefunden, nicht an sich selbst zu verzweifeln „In den ekstatischen Zuständen des Schreibens fühlte sich Kafka erst wirklich lebendig. Die ungeheure Welt, die er dabei im Schreiben entdeckt, ist die gewöhnliche, gesehen aus der Perspektive dessen, der zögert, in sie hineingeboren zu werden“, formuliert Safranski treffend.
Allein, zur Nachtzeit am Schreibtisch des Durchgangszimmers, wenn niemand mehr in seinem Rücken von einer Tür zur anderen läuft und wenn das aufdringliche, lärmende Nicht-Ich endlich aufhört, gegen seinen Schädel zu trommeln, schafft er sich eine Welt des Geistes, die die unverständliche Außen- und Innenwelt deutet und handhabbar macht. „Alles, was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich, es langweilt mich Gespräche zu führen … Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem was ich denke die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit“, bekennt der Schriftsteller im Tagebuch. Aber das seelenstabilisierende Schreiben war auch Ursache seiner Dauerschuld: Er warf sich vor, den Mitmenschen etwas – sich selbst – vorzuenthalten und zieh sich der „Eigensucht“. Doch ohne die magische Tätigkeit setzte sofortiger Selbstverlust und Schwerfälligkeit des Denkens ein.
Kafka wollte das Unzerstörbare, etwas, das bleibt und keiner bedingten Gültigkeit unterliegt. Das aber war kein transzendentes Wesen, sondern ein weltdurchwaltendes Prinzip. Das „rechte Leben“, das zu führen die Menschen verpflichtet sind, ist kein ihnen vorgezeichnetes Schicksal, sondern das Gesetz in ihnen selbst. Ihm auf die Spur zu kommen, war Kafka zeitlebens bemüht. Es ist dem modernen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung verwandter als die Vorstellung von einem Plan Gottes für die Menschheit und für jedes einzelne Exemplar der Gattung. Bis zum Ende seines Lebens probierte er Interpretationen der ihm fremden Welt aus, unterbreitete er sich selbst Deutungsvorschläge. Aber es paßte ihm kein Hut und kein Mantel.
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Rüdiger Safranski diagnostiziert, Kafka sei ein Gescheiterter gewesen oder habe sich zumindest als solcher empfunden, weil es ihm an der „Verankerung in einer sinnspendenden Gemeinschaft“ gefehlt habe. Seine Äußerungen zu religiösen Fragen hätten kein Bekenntnis eines Gottesglaubens vorausgesetzt – vielmehr habe er sich immer wieder an Deutungen solchen Glaubens versucht.
Man kann sogar sagen, Kafka hat religionspsychologische Studien betrieben und dabei Glaubensinhalte analysiert. Er war ein Deuter und Forscher – weil in seinen Augen nichts selbstverständlich war. Safranski befindet: Was wie Glaubenssätze klingt, seien Bilder und Metaphorik. Der Schriftsteller probierte Gedanken und Deutungen aus, verwarf sie, setzte sie fort oder begann von neuem. Die beiden Seelen in seiner Brust, die spirituelle und die „naturalistische“, wie Safranski sie nennt, führten zu einer andauernden religiösen Grundspannung. Er will das eine, kann das andere aber nicht lassen. Vielleicht ja, vielleicht nein – diese Dynamik zieht sich durch sein Leben: ein Zauderer, ein ewiger Zweifler. „Kafka versucht im Blick auf Transzendenz den Fuß in der Tür zu behalten, damit sie nicht zufällt.“ (Safranski) Treffender kann ein Bild kaum sein.
Schluß
Wer immer nur auf Metaebenen wandelt, ist zu wahrem Glauben, ob an einen Gott oder an andere höhere Wesen, deren Existenz nicht verifizierbar ist, kaum fähig. Es hieße, die Kälte der Distanz und den Relativismus der Skepsis zu hintergehen, ließe man sich aus Not, aber nicht aus Überzeugung in die weichen Arme des Unbedingten sinken. Warum sollte ausgerechnet ein an allem Zweifelnder der Existenz eines guten Geistes, der über ihn wacht und der einen Plan für ihn hat, sicher sein? Kafka hat weder zu Demut noch zu Gnade gefunden. Er ist nie das Wagnis des Glaubens eingegangen. Und seine permanenten Schuldgefühle bezogen sich nicht auf ihn als jüdischen Menschen, sondern auf sein – wie er es einschätzte – vollkommenes Versagen als Mitmensch und Weltbewohner, insbesondere seine Unfähigkeit zu Hingabe und Vertrauen.
Der einzige Glaube, den Kafka im Laufe seines Lebens erworben und an dem er festgehalten hat, war sein Glaube an sich als Schriftsteller, an seine Fähigkeit, seine Existenz in Bilder zu fassen. Das war so wenig nicht. Auch wenn er es nach seinem Dafürhalten nicht geschafft hatte, zu wahrem Menschsein geboren zu werden, verhinderte dieser Glauben zumindest, daß er seinem Vor-Leben selbst ein Ende bereitete. Kein Künstler hat aus seinen Schuldgefühlen so viel gemacht wie Kafka, meint Rüdiger Safranski. Große Kunst erwächst nun einmal nicht aus Menschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden stehen. Der „Luftmenschen“ sind viele. Und vielleicht schließen Religiosität und Agnostizismus einander auch nicht konsequent aus. Kafka hielt sich zeitlebens im „Dazwischen“ auf. Warum sollte er sich ausgerechnet in dieser Frage festlegen lassen?
Abbildung: Franz-Kafka-Denkmal von Jaroslav Róna in Prag (Foto: Myrabella / Wikimedia Commons)