Henry Kissinger – eine Würdigung

LOGBUCH LIV (9. Dezember 2023). Von Christoph Rohde


Henry Kissinger war eine große Persönlichkeit, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts intellektuell und diplomatisch mitprägte und deren Einsichten bis zu Kissingers Tode am 29.11.2023 die globale Öffentlichkeit befruchteten – von Washington, D. C. bis Peking, von Dakar bis London.
Seine Werke und Werke über ihn zieren zwei Reihen meines 80 Zentimenter breiten Bücherregals – von seinen Memoiren 1968–1973, den Years of Upheaval, dem theoretischen Magnum Opus Die Vernunft der Nationen (engl. Diplomacy) bis hin zu den Werken des 21. Jahrhunderts, die sich mit China, der Weltordnung und der Staatskunst befassen. Die Sekundärliteratur beinhaltet spannende Biographien von Walter Isaacson bis zu Niall Ferguson. In amerikanischen Buchhandlungen werden 500 Seiten schwere Werke Kissingers für 50 Cent verramscht, was den Wert seines Denkens nicht schmälert. Als Staatsmann stand er On Trial – als Intellektueller wurde er bis zuletzt von einflußreichen Institutionen konsultiert und in Teilen der Öffentlichkeit gefeiert.

Sein eisernes Image stellt nur eine Seite seiner facettenreichen Persönlichkeit dar. Der toughe Kissinger war der kompromißlos agierende Diplomat, der nicht nur als Akademiker ein machtzentriertes Weltbild vertrat, sondern auch als Realpolitiker eiskalte Entscheidungen traf und durchsetzte. Weniger bekannt ist seine „idealistische“ Seite, die er erst nach seiner aktiven staatsmännischen Karriere zur Geltung bringen konnte. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, daß Kissinger lernfähig war und daß sein Image als knallharter Realist zu kurz greift.

Der junge Kissinger wurde von seinen gläubigen jüdischen Eltern in einem Humanismus erzogen, den er intellektuell aufgriff, aber erst später anwenden konnte. Henry, geboren in Fürth, hatte das Glück, 1938 rechtzeitig nach Amerika emigrieren zu können. Dieses Glück hatten viele seiner Familienmitglieder nicht. In Amerika kam er während des Krieges in eine spezielle Ausbildungseinheit der U.S.-Armee. In der G-Kompanie des 335. Infanterieregiments lernte er bei der Vorbereitung auf die Invasion in Europa seinen späteren Entdecker und Mentor Fritz Kraemer kennen, der ihn intellektuell inspirierte. Als Sergeant der Besatzungsmacht kehrte Kissinger im Alter von 24 Jahren in die USA zurück, wo er ein Studium der Regierungslehre, Geschichte, Chemie, Mathematik und des Französisch aufnahm. Dieses breite Fächerspektrum spiegelt seine vielseitigen Fähigkeiten wider. Seine Abschlußarbeit The Meaning of History legte die Basis für seine weiteren Arbeiten. Wie sein Biograph Isaacson zeigt, war Kissinger von Spenglers historischem Determinismus fasziniert, verwarf diesen jedoch intellektuell. Immanuel Kants Idee der Moralfreiheit bildete die Basis für seine politische Philosophie. In Sachen Diplomatie war er von Metternichs diplomatischem Geschick genauso angetan wie von Bismarcks revolutionärem Konservativismus. Zügig verfaßte er seine Dissertation über die Mächtegleichgewichtsmechanismen im europäischen Staatensystem unter dem Titel Großmachtdiplomatie. Sie fand viel Anerkennung. Zu dieser Zeit, im Jahre 1949, heiratete er Anneliese Fleischer, die aus Nürnberg stammte, nach jüdisch-orthodoxem Brauch.

Akademisch baute der ehrgeizige Kissinger ein beeindruckendes Netzwerk auf, das International Seminar, in welchem er jährlich angesehene Akademiker aus der ganzen Welt zu einem Treffen nach Harvard einlud. Dazu gründete er eine Zeitschrift, Confluence, für die ebenfalls einflußreiche Persönlichkeiten Beiträge verfaßten. Seinen Durchbruch erlangte Kissinger mit einem Artikel über taktische Nuklearwaffen, der ihm Angebote für Professuren an renommierten Universitäten einbrachte. Seine transatlantischen Beziehungen nutzten Kissinger. Er war als Experte für Nuklearstrategie der erste amerikanische Teilnehmer der von Ewald von Kleist gegründeten Wehrkundetagung, die heute als Münchner Sicherheitskonferenz weltweite Aufmerksamkeit genießt.

Die Berufung zum Nationalen Sicherheitsberater am 20. Januar 1969 kam überraschend, obwohl er als Intellektueller bereits außenpolitischer Berater des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Rockefeller für die Wahlen 1964 gewesen war. Deshalb war er mit den Details der zunehmenden Verwicklungen der USA in Vietnam bestens vertraut. Die Macht, die er theoretisch untersucht hatte, war für ihn eine große Verlockung und die Berufung eine Ehre. Im September 1973 wurde er als erster nicht in Amerika Geborener zum Außenminister der USA vereidigt. Mit Richard Nixon und Henry Kissinger trafen allerdings zwei Persönlichkeiten aufeinander, die von einem Grundmißtrauen geprägt waren, was sich auch in ihrem Umgang mit den Mitarbeitern niederschlug. Kissinger hatte den Auftrag, einen ehrenhaften Frieden in Vietnam auszuhandeln. In einmaliger Weise hatte er Zugang zum amtierenden Präsidenten Richard Nixon, und als dieser durch die Watergate-Affäre und das Vietnam-Trauma geschwächt war, galt Kissinger als Quasi-Präsident. Denn er konnte die Persönlichkeit Nixons am besten einschätzen und die Konkurrenten aus der Administration geschickt aus dem Spiel halten.

Das prioritäre Ziel der Nixon-Administration war es, den Vietnam-Krieg zu beenden. Doch ausgerechnet in Bezug auf jenen Konflikt ließ sich Kissinger von einer einfachen ideologischen Weltsicht verführen, die in der U.S.-Administration aus mangelnder Geschichtskenntnis und einer unangebrachten Geschichtsteleologie die entscheidungsleitende Hegemonie erlangte. Es war die Domino-Theorie als global angewandte antikommunistische Doktrin, die davon ausging, daß, wenn ein Staat kommunistisch würde, die ganze Region und auf längere Sicht die ganze Welt dem Kommunismus unterworfen würde. Daraus resultierte die Fehlperzeption, sich den Kommunismus als monolithischen Block vorzustellen. Kissingers jüdischer Kollege aus der Academia der internationalen Beziehungen, Hans Joachim Morgenthau, hatte der Johnson-Administration zu vermitteln versucht, daß es sich beim nordvietnamesischen Regime um eine lokale Form des Kommunismus handelte, die sogar gegen China gerichtet war. Daß Kissinger diesen Gedanken Morgenthaus nicht aufnehmen wollte, kritisierte Morgenthau, den Kissinger in einer Trauerrede 1980 als Lehrer und Freund bezeichnete, mit scharfen Worten (siehe dazu Christoph Rohde: Hans Morgenthau und der weltpolitische Realismus. Wiesbaden 2004, S. 276f.). Es war eine kontraproduktive Interpretation von Verantwortungsethik, die in geheime und langandauernde Bombardements auf das neutrale Kambodscha mündete, die heute als Kriegsverbrechen zu werten sind. Das Kriegsende in Vietnam wurde dadurch nur verzögert, und das zu einem sehr hohen Preis.

Der Mann, der später strategisch klug und erfolgreich die Annäherung an China vorbereitete, das SALT-I-Abrüstungsabkommen mit der UdSSR aushandelte, nach dem Jom-Kippur-Krieg eine Entspannung zwischen Israel und Ägypten erreichte und den Friedensnobelpreis für den Friedensvertrag mit Nordvietnam erhielt, wandelte sich nach seiner aktiven diplomatischen Laufbahn zu einem elder statesman, der sich in die Interessen globaler Akteure hineindachte und bis zuletzt ein wichtiges Bindeglied im amerikanisch-chinesischen Verhältnis darstellte. Mit der erworbenen Anerkennung konnte er das Mißtrauen früher Jahre ablegen und Werte realisieren, wie er sie vor der historischen Tragödie seiner Jugend angestrebt hatte.

Kissinger spielte nicht seine moralische Überlegenheit als Opfer der Nazis aus, sondern überzeugte mit seiner Kompetenz, als er Deutschland in den späten fünfziger Jahren besuchte. Es zeugt von außerordentlicher Reife, daß er aus Anlaß dieser Reise attestierte: „Ich glaube, ein Teil des Einflusses, den ich in den USA gewinnen konnte, kommt daher, daß meine Jugend mir auch die Perspektive einer anderen Welt mitgegeben hat.“ (Evi Kurz: Die Kissinger-Saga. Walter und Henry Kissinger, zwei Brüder aus Fürth. Fürth 2007, S. 149.)

Es war bewegend, als Kissinger anläßlich seines 100. Geburtstages sogar nach Fürth kam und dort einen Schal der Spvgg Fürth trug. Der jüdische Humanismus, den er nicht religiös begründet hatte, erlaubte ihm, sich zu entwickeln. Sein ein Jahrhundert lang dauerndes Leben hat trotz mancher Fehler diese Welt bereichert; seine geistige Flexibilität ist das Resultat einer hohen Bildung und eines wandlungsfähigen Charakters. Das Geheimnis aber war wohl eine Persönlichkeit, die sich nicht verbittern ließ und von der Überzeugung getragen war, daß sie aufgrund besonderer Talente und profunder Erfahrungen eine bedeutende Rolle in der Welt würde spielen müssen.

Wenig bekannt ist, daß Kissinger Trauerreden zur Würdigung bedeutende Persönlichkeiten gehalten hat. Diese Reden zeigen, daß der als so unerbittlich charakterisierte gebürtige Fürther nicht nur beziehungsfähig war, sondern die Besonderheiten menschlicher Charaktere wunderbar erfassen und beschreiben konnte. Er hielt Reden zum Tode von Gerald Ford und John McCain und sprach auch zum Ableben Helmut Schmidts. Die Freundschaft mit dem kühlen Hamburger veranschaulichte seine Fähigkeit, nüchterne Analyse mit Herzlichkeit zu verbinden (siehe „Eulogy for Helmut Schmidt“ auf henryakissinger.com).

Bis zum Ende seines Lebens war Kissinger auf der Höhe der Zeit. Im Oktober noch veröffentlichte er mit Graham Allison einen Artikel zu den Gefahren Künstlicher Intelligenz für die militärische Entwicklung der Zukunft. Darin plädierte er für eine Kooperation zwischen den USA und China auf diesem Feld. Und Deutschland blieb sein Leben lang in seinem Herzen: „Ich bin in Deutschland unter schmerzlichen Umständen aufgewachsen. Dennoch habe ich trotz des Traumas jener Jahre immer eine tiefe Zuneigung zum Land meiner Jugend aufrechterhalten.“ (Kurz, a. a. O., S. 147.)


Abbildung: Henry Kissinger als US-Außenminister (1973), Wikimedia Commons

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