„Götter seid ihr“ – Zur Reichweite eines kühnen Entwurfs

LOGBUCH XXXIX (6. Februar 2023). Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

 

Diese Betrachtung ist zugleich eine Hommage an Romano Guardini zu dessen 55. Todestag, der am 1. Oktober 2023 begangen werden wird.



„Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten …“ (Ps 82,6) Zweimal steht in der Hl. Schrift ein solches Wort, das erste Mal in der Genesis, als die Schlange die Menschen versucht: „Ihr werdet sein wie Gott …“ Aber in Joh 10,34–36 zitiert Jesus selbst zustimmend das Psalmwort: „Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: ‚Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‘? Wenn er die Götter nennt, zu denen das Wort Gottes geschah […], wie sagt ihr dann zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott, weil ich sage: Ich bin Gottes Sohn?“

In Jesu Mund klingt das Psalmwort anders, es ist keine Versuchung mehr, es ist eine Zusage. Sie ist kühn und kaum zu glauben, empirisch auch nicht zu bewahrheiten. Aber sie ist ernst zu nehmen. Guardini hat das getan, und seine Auslegung ist selbst groß entworfen. Die Überlegung dazu bezieht sich zuerst auf Griechenland und geht von dort weiter zu Christus, und zwar anhand eines Eindrucks von der griechischen Kunst: „Wie sind die griechischen Bildwerke des Leibes sicher! Solch eine Anadyomene, oder der Fechter daneben im Thermenmuseum – welche Kenntnis setzen sie voraus. […] Sie besaßen den Leib in vollkommener gymnastischer Bildung. Sie empfanden jedes Glied, jedes Gelenk und jede Bewegung. Ihr Körper hatte die Seele eingesogen; sie lebte darin. […] Ob die Menschen nicht wirklich die Möglichkeit haben, Götter zu werden? Ob nicht etwas davon in der griechischen Welt Wirklichkeit geworden ist?“[1]

Guardini sieht den Menschen in solcher Kunst in die Bewegung, den Raum, die Verlockung eigener Freiheit entlassen. Diese holt ihn aus dem bergenden Bereich des bloß Natürlichen und – gefährlicher – nähert ihn dem Göttlichen an. Allerdings meint „Göttliches“ dabei nicht ein Transzendieren über die Welt hinaus, sondern ein Transzendieren im Menschlichen selbst: in das göttliche Einssein mit dem Leibe. Griechenland gibt damit ein Maß des Menschlich-Göttlichen vor, das seinesgleichen sucht, unerschrocken, ja waghalsig.

Aber: Zum europäischen Entwurf des Menschen kommt ein Zweites hinzu. Christus sprengt auch das göttliche Einssein des Menschen mit sich selbst. „Aber so kann man wohl nicht sein, und zugleich wirklich offen stehen für den Bereich des Heiligen Geistes. […] Die Seele mußte erst in irgend einem Sinne aus dem Leibe hinausgewagt, hinausgerissen werden, um frei zu werden für die andere Welt. Für eine Leiblichkeit, die in der Auferstehung offenbar wird, und dem ‚neuen Himmel und der neuen Erde‘ angehört. Aber sie beginnt schon in der Taufe.“[2]

Christsein meint: das Verlassen des nur Irdischen, die Blickwendung ins kaum Faßliche, das abgründige Vertrauen auf eine geschenkte Größe, die von einer anderen Herrlichkeit, der des Schöpfers nämlich, überstrahlt wird – gegen allen Augenschein. „Wir sehen wohl die Welt sehr klein. Wir sehen die schwindelnden Möglichkeiten von Größe, Schicksal und Herrlichkeit nicht. Wir sehen die Welt kümmerlich. Darum haben wir auch nicht die Leidenschaft des großen Opfers. Was Christentum heißt, das solches Opfer verlangt; das Ungeheure dieser Entscheidung, und was darin erwachen kann, so groß, daß es ‚noch nie in eines Menschen Herzen gedrungen ist‘ – das ermißt man wohl erst, wenn man ahnt, welche Möglichkeiten der Mensch tatsächlich hat. […] Das Wort Gottes redet die Menschen in anderem Ton an, wenn es bei Johannes heißt: ‚Ich sage: Götter seid ihr?‘“[3]

Einzigartig im Christentum ist das Heraussprengen des Menschen aus dem Kosmos, eine übermenschliche Möglichkeit, die Freiheit zum Äußersten bedeutet, auch Freiheit zum Untergang. Aber mehr noch Freiheit, artikuliert durch Christus, der die Göttlichkeit des Menschen herausruft, weil er sie an die zwingende Beziehung zu Ihm bindet. So ist Christus ein Aufbrechen des Menschen zu noch größerer Freiheit: Der Bruch mit der Natur führt zur unnachgiebigen, alles entbindenden Bindung an Gott. In dieser Bewegung sieht Guardini den Maßstab der Geschichte. Darin steckt die Wirkung Europas auf die Welt und, überaus gefährlich, die Möglichkeit und Wirklichkeit des Abfalls.


Der erste Anfang

Aus der Offenbarung steigt Unergründliches auf: das Geheimnis des Ur-Anfangs. Gott selbst ist Anfang: bereshit und arche, wie die Genesis (auf Hebräisch) und der Johannesprolog (auf Griechisch) sinngleich formulieren. Zu welcher geheimnisvollen Fähigkeit ruft diese Anfangskraft die ersten Menschen? „Damit ist gesagt, daß der Mensch aus der Welt hinaus in Gottes Höhe, und von Gott her in die Tiefe der Welt hinein gebaut ist. Ein wunderbares und furchtbares Dasein. Nach der Weise der Brücke ist der Mensch gebaut. Er ist kein Naturwesen, aber auch kein Engel. Ein Entwurf auf etwas Ungeheures hin, ein Plan zu einem Werke göttlicher Schöpfermacht. Den ersten Menschen aber ahnen wir als ein wunderbares Geheimnis unberührter Frische, reiner Kraft, leuchtender Schönheit, aller Verheißungen voll. […] Als große herrliche Wesen. Sie müssen etwas von dem an sich gehabt haben, was man nachher ‚Götter‘ genannt hat, etwas von anderswoher Kommendes, etwas Mythisches. Sie hätten uns wohl erdrückt durch die Mächtigkeit ihrer Existenz.“[4] Aber eben diese Größe war Anlaß der Versuchung: Nicht weil der Mensch klein, sondern weil er groß gedacht war, fiel er.


Der andere Anfang

Göttliches Leben wurde nicht nur im Anfang eingehaucht. Aus der Menschwerdung des Logos erhebt sich noch erschütternder, tiefer bewegend die neue „zweite Schöpfung“, der „neue Mensch“: „Quer durch alles hindurch vollzieht sich das Werden des neuen Menschen, der gebildet wird nach dem Bilde Christi, auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes hin. Der Glaubende aber stellt sein lebendiges Sein diesem Werden zur Verfügung. […] Denn es soll sich ja nicht bloß an ihm zutragen, sondern es kann sich nur durch Freiheit verwirklichen; wohl von Gott gewirkt, aber im lebendigen Wollen und Wirken des Menschen, das heißt, in seinem Glauben.“[5]

Und die Katastrophe des Falls? Vor dem neuen Freiwerden und Mitwirken liegt die Passion Gottes, liegen die Stunden von Gethsemane und Golgatha. Aber: „Gott überläßt den Menschen der abfallenden Bewegung, der Sünde nicht. […] In dem Maße ist Gott zu uns gekommen, daß Christus sagen kann: Deine Sünde ist meine Sünde, meine Sühne ist Deine Sühne; meine Heiligkeit gehört Dir. Christliches Dasein ist ein Leben aus dieser Einheit mit Christus. Es besteht im tiefsten darin, daß ich in einer anderen Person, in Christus existiere.“[6]

Wieder in die Offenheit Christi gestellt, sind Welt und Mensch einander zutiefst verwandt: im Ursprung, im Fall, im Erlöstsein, in der pneumatisch zu wirkenden Zukunft. Aber all diese Dynamiken geschehen nicht über den Kopf des Geschöpfes hinweg. In der Begegnung gerade des erlösten Menschen mit der Welt geschieht eine Inkarnation, die Inkarnation eines noch nicht Dagewesenen. „Die Welt ist nicht fertig. Und nicht nur deshalb, weil sie sich noch weiterentwickeln, Dieses und Jenes werden müßte. Es ist tiefer gemeint. ‚Die Welt‘ sind nicht die Dinge draußen für sich allein, sondern das, was in der Begegnung zwischen dem Menschen und ihnen wird. […] innerlich werdendes Außen, und hinausgetragene Innerlichkeit. […] Ist Hand, die erst ganz sie selbst wird an der Frucht, die sie greift; Boden, der erst zum Acker wird, wenn der Mensch ihn pflügt und besät. […] Und auch nicht nur ‚das Ding‘ und ‚den Menschen‘; die gibt es ja nicht. Es gibt diese Zypresse, wie sie da gewachsen ist; an dieser Stelle zum Hang, wo der Windstrom, der immer abends herabkommt, sie von der Seite trifft. […] Hierin besteht der Schöpferdienst, zu dem Gott den Menschen gerufen hat: daß immerfort, in seiner Begegnung mit den Dingen, die eigentliche Welt werde. Daß er selber erst werde, indem er an die Dinge gerät; schaut, versteht, liebt, an sich zieht und abwehrt, schafft und gestaltet. Daß die Dinge sie selbst erst ganz werden, wenn sie in den Bereich des Menschengeistes, seines Herzens und seiner Hand gelangen. Diese Welt wird immerfort; leuchtet auf und erlischt wieder.“[7]


Blick auf den dritten Anfang

Guardini ist im Tiefsten ein Denker des Werdenden, der Apokalypse. Ihr stellt sich der Mensch mit Wagnis und Verantwortung, mit Erraten, mit Schaffen zur Verfügung, und es wird „entscheidenderweise von der Verantwortung für das, was es noch nicht gibt, vom Wagnis und von der Entdeckung bestimmt“.[8] Welt ist nicht einfach „da“, sie wird erst herausgelockt und befruchtet durch den Menschen, und zwar von dem durch Christus gelösten.

Das Sein des Menschen und der gesamten Schöpfung ist nicht einfach statisch, sondern es ist „auf … hin“. Das Werden des Neuen tritt deutlich und kraftvoll hervor: „Mein Dasein ist eine Werkstatt, in der Er schafft. Aus mir soll Neues hervorgehen. Christliches Handeln und Schaffen aber ist ein Tun des Menschen im Einvernehmen mit dem Tun Gottes. […] zugleich aber auch in lebendiger Zuversicht, weil jeder Mensch eine Ausgangsstelle des göttlichen Schaffens ist. […] Das geht in keine allgemeinen Begriffe ein, denn es ist das jeweils Neue, jeweils Einmalige. Und es ist nicht wenig, vielmehr die Hälfte des Daseins.“[9] Werden ist Auftrag, Imperativ und Wille des Schöpfers, der sein Geschöpf stark und schaffend sehen will. Der Mensch ist omnipotentia sub Deo, „Allmacht unter Gott“, wie Guardini zustimmend Anselm von Canterbury zitiert.

Aufbrechen aus dem Dunkel der Sünde heißt, sich in den Ruf Christi zu stellen, das Werden auf Ihn hin zu wollen. Alles übersteigend, ist daher ein dritter Anfang angekündigt, apokalyptisch: wenn Erde und Himmel neu geschaffen werden. Damit werden jetzt noch undurchschaute Zusammenhänge endgültig geöffnet. „Gott muß uns ‚unbekannt‘ sein. Doch gerade seine Unbekanntheit geht uns an. Sie ist das Kostbarste. Sie verheißt uns Heimat. Unsere Seele wittert im Unbekannten das Eigentliche, woraus sie lebt, und den Ort, wo sie hingehört.“[10] Schon diese Wortwahl läßt ahnen, worin die unerschöpfte Größe dieses Denkens besteht. Was verlangt es vom Menschen, sich in die Zusage Christi zu stellen: „Götter seid ihr“?


[1] R. Guardini: Tagebuch, in: ders., In Spiegel und Gleichnis. Bilder und Gedanken (1932), 2. Aufl., Mainz 1940, 137–168; hier: 140.142.
[2] Ebd., 142.
[3] Ebd., 142f.
[4] R. Guardini: Gestalten aus der Heilsgeschichte. Fünf Morgenbetrachtungen, in: Burgbrief 2 (1933), 17ff.
[5] R. Guardini: Zitat, in: Christliche Verwirklichung, hg. v. Karlheinz Schmidthüs, Rothenfels 1935, 5.
[6] Rosl Asam: Mitschrift des Vortrags Guardinis in: „Stille Tage in Burg Rothenfels“ 1932 (Archiv Gerl-Falkovitz).
[7] R. Guardini: Tagebuch (Anm. 1), 18f.
[8] R. Guardini: Einführung, in: Jean-Pierre Caussade: Ewigkeit im Augenblick. Von der Hingabe an die göttliche Vorsehung, 4. Aufl., Freiburg i. Br. 1955, 1–20; hier: 9.
[9] R. Guardini: Vorschule des Betens, 2. Aufl., Mainz 1948, 196f.
[10] R. Guardini: Predigten zum Kirchenjahr, hg. v. Werner Becker, Leipzig 1965, 77.

 

Prof. em. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz war bis 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft an der TU Dresden, seitdem ist sie Vorstand des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion (EUPHRat) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz; ihr umfassendes publizistisches und editorisches Wirken wurde mehrfach preisgekrönt, zuletzt 2021 mit dem Joseph-Ratzinger-Preis.

 

Abbildung: Verklärung Christi (1518–20) von Raffael, Ausschnitt (www.zeno.org)

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