LOGBUCH XLIII (29. März 2023). Von Michael Rieger
Verstört bin ich, vor den Kopf gestoßen. In welchem Land leben wir denn hier eigentlich? Wie armselig ist die geistige Debatte in diesem Land derweil geworden? Harry Nutt kommt das große Verdienst zu, diesem geistigen Verfall, dieser Unsäglichkeit deutlich und unmißverständlich widersprochen zu haben, und zwar in der Frankfurter Rundschau vom gestrigen Dienstag, den 28. März 2023. Im Netz läßt sich der Artikel hier nachlesen. Dort kann jeder, den es angeht, einer genauen Schilderung eines Dramas schierer Dummheit beiwohnen.
Wovon ist die Rede? Harry Nutt erzählt davon, daß eine Deutschlehrerin sich erdreistet hat, per Petition ausgerechnet Wolfgang Koppens Tauben im Gras (1951) aus dem Abiturstoff in Baden-Württemberg getilgt sehen zu wollen. Zitat Harry Nutt: Die Deutschlehrerin „wehrt sie sich gegen das vielfach vorkommende N-Wort. Das Romanpersonal sucht sogenannte ‚Negerklubs‘ auf und Frau Behrendt, eine der Figuren des vielstimmigen Textes, lässt der Autor räsonieren: ‚Was brachten einem die Amerikaner? Es war schimpflich, dass Carla sich mit einem Neger verbunden hatte; es war fürchterlich, dass sie von einem Neger geschwängert war; es war ein Verbrechen, dass sie das Kind in sich töten wollte. Frau Behrendt weigerte sich, weiter darüber nachzudenken.‘“
Die in Rede stehende Deutschlehrerin (oder eher Ex-Deutschlehrerin) hat „dies unmissverständlich als Ausdruck von Unterdrückung und Entmenschlichung verstanden und den Schuldienst quittiert, um sich der rassistischen Sprache nicht weiter aussetzen zu müssen. Was man sich bewusst machen müsse bei dem Thema, wird sie vom Sender SWR zitiert, sei, dass die Sprache tatsächlich den Rassismus transportiere – und zwar in ihre Lebenswelt hinein. Das sei nicht abstrakt, sondern betreffe sie direkt. ‚Das ist ein brutaler Angriff auf meine Menschenwürde.‘“
Als Unterstützerin für diese Position und die daraus resultierende Petition, Tauben im Gras nicht mehr als Abiturstoff zuzulassen, hat sich eine Paderborner Literaturwissenschaftlerin gefunden – sie kritisieren gemeinsam den Text von Koeppen, „weil betroffene Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte“ während der Besprechung des Romans „immer wieder rassistischer Diskriminierung ausgesetzt würden, ‚indem rassistische Begriffe, in diesem Fall das N-Wort, laut in der Unterrichtssituation vorgelesen werden‘.“
Somit dürfen wir messerscharf schlußfolgern, daß es in der Tat Deutschlehrer und Literaturprofessoren in diesem Land gibt, denen die geistige Kraft nicht gegeben ist, sich den historischen Kontext und die politische Dimension von Koeppens Tauben im Gras zu erschließen, ja zu erarbeiten, wenn es nötig ist. Manchmal ist es halt nötig, hier und da ein bißchen genauer nachzulesen.
Armes Deutschland! Denn es ist zu erbärmlich sich vorzustellen, daß es Leserinnen gibt, die sich dem Werk in Ruhe widmen, dessen Kontext ergründen, dessen Sprache interpretieren, um dann zu derart absurden und beleidigenden Konsequenzen zu kommen. Ja, es ist eine Beleidigung für den aller Ehren werten Wolfgang Koeppen, diesen übersensiblen Sprachartisten, von kleinen Lichtern derart in den Schmutz gezerrt zu werden. Es ist eine groteske und wahrlich mickrige Welle der Wokeness, die hier einen Gegenstand gefunden hat, der nichts anderes war und ist als ein aufrecht gehender Repräsentant der Aufklärung, der kompromißlosen Kritik, ein Repräsentant des Geistes, und wenn wir von Literatur sprechen wollen, und das müssen wir ja wohl: einer der größten Stilisten deutscher Sprache.
Daß es aber Deutschlehrer und Literaturprofessoren gibt, die eben das nicht verstehen, nicht verstehen wollen, ja, nicht verstehen können, was eigentlich ihre Arbeit hätte sein sollen, kommt jenem Blick in den Abgrund einer Welt gleich, in der die eilfertigen Nichtwisser, Halbwisser, die hyper-emotionalisierten Ignoranten sich aufspreizen und anmaßen, das Sagen haben zu wollen über Sachen, von denen sie eben – quod erat demonstrandum – keine Ahnung haben, in diesem Fall von so sensiblen Dingen wie Sprache und Literatur. Während Wolfgang Koeppen und sein Werk Bewunderung verdienen, verdient diese „Petition“ nichts als kalte Verachtung.
Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Berlin: Suhrkamp 2016. 228 S.
Abbildung: Wikimedia Commons