Gedanken über das Gebet

LOGBUCH L (13. September 2023). Von Daniel Zöllner


Es gibt kaum eine Aussage in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, der man als Christ vehementer widersprechen muß als der Behauptung, es sei „eine Schmach, zu beten“ (Zarathustra, Dritter Teil, Von den Abtrünnigen). Es ist keine Schmach, sondern höchste Ehre des Menschen, daß er beten kann. Zu sagen, daß der Mensch beten kann, heißt groß von ihm denken, ihn nicht einschließen in seine kleinliche, durchschnittliche Alltäglichkeit. Denn der Mensch hat im Gebet die Möglichkeit, in Dialog und Gemeinschaft mit Gott und dessen höherer Wirklichkeit zu treten und so den Käfig seines Alltags und Alltagsdenkens zu sprengen. Der Mensch ist capax Dei, Gottes fähig und „gottoffen“. Läßt sich eine triumphalere Aussage über den Menschen treffen? Das Problem scheint zu sein, daß Nietzsche zu niedrig vom Menschen dachte. Nur deshalb kann er das Beten als Schmach und Erniedrigung bezeichnen, während in Wahrheit der Mensch aufs Äußerste erhöht wird, wo er niederkniet, den Kopf senkt und die Hände faltet. In den Hymnen an die Kirche schreibt Gertrud von le Fort: Die Seele der Braut ist in die Herrlichkeit des Gekrönten, also Christi „verbetet“ (Das Königsfest Christi I). Daß wir uns verbeten sollen in Gott – ist damit nicht eigentlich die tiefste (und höchste) Bestimmung des Menschen ausgesprochen? Damit ist gleichzeitig gesagt: Am Grund des Lebens liegen nicht Kampf, Arbeit, Mühe, Mißtrauen und Zweifel. Am Grund liegen vielmehr Muße, Kontemplation, das große Ja des Vertrauens und die Seligkeit des reinen, einfachen Schauens. Denn auf all das richtet sich das Gebet aus mit dem großen Ziel der visio beatifica, der Schau Gottes.

Romano Guardini schreibt in seiner Vorschule des Betens (Ostfildern 2011, S. 46): „Man möchte fast sagen, das Gebet sei als Akt des Menschen etwas von jener Art, von welcher als Eigenschaft Gottes die Heiligkeit ist“. An einer anderen Stelle desselben Buches heißt es: „Man kann auf die Dauer kein Christ sein, ohne zu beten – sowenig man leben kann, ohne zu atmen“ (S. 13). Dieser Satz bleibt vermutlich sogar dann richtig, wenn man in ihm „Christ“ durch „Mensch“ ersetzt. Das Beten – für das geistliche Leben so notwendig wie das Atmen für das physische. Andererseits scheint kaum etwas seltener zu sein als das wahre Gebet. Fridolin Stier schreibt in seinen Aufzeichnungen: „Unter 1000 Menschen ist einer, der betet, sind zwei, die lieben, drei, die denken, vier, die arbeiten – auf sie kommt es an; ohne sie wären die übrigen 990 massa damnata, morbida, moritura …“ (Vielleicht ist irgendwo Tag. 4. Aufl. Freiburg i. Br. / Heidelberg 1985, S. 149). Die wahren Beter sind selten, äußerst selten, aber sie geben den Ausschlag. Das war auch Reinhold Schneiders Auffassung, als er 1936 das berühmte Sonett verfaßte, das mit den Worten beginnt: „Allein den Betern kann es noch gelingen, / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten …“

Im Gebet übe ich eine Haltung ein, die es mir ermöglichen kann, Gottes Ansprache zu vernehmen. So ist das Gebet (zusammen mit der rationalen Prüfung von Argumenten für die Existenz Gottes) auch ein Weg, um herauszufinden, ob Gott existiert. Um es in einem Gleichnis zu verdeutlichen: Wer wissen will, ob ein Mensch existiert, dessen Name im Telefonbuch aufgeführt wird, der ist schlecht beraten, lange Abhandlungen über ihn zu lesen. Er sollte ihn einfach anrufen und auf seine Antwort hören. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Frage, ob Gott existiert. Wie das Kind zum Sprecher wird durch die Ansprache von Mutter und Vater, so wird der Mensch zum Beter durch die Ansprache Gottes. Wer wirklich betet, ist also zuvor bereits angerufen worden von Gott. Zumindest ahnt er den Anspruch, den Gott auf ihn erhebt: „Ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1)

Man kann vermuten, daß an der Wurzel der heute weit verbreiteten Unfähigkeit zu beten neben Unaufmerksamkeit und Zerstreuung ein Mangel an Selbstachtung liegt. Denn beten heißt sich öffnen für die höchste und tiefste Bestimmung des Menschen, für seine Gemeinschaft mit Gott. Im dritten Akt von Francis Poulencs Oper „Dialogues des Carmélites“ (nach einer Novelle von Gertrud von le Fort) sagt Mutter Marie zur Hauptfigur Blanche, die sich trotz Eid dem Martyrium entziehen will: „Le malheur, ma fille, n’est pas d’être méprisée, mais seulement de se mépriser soi-même.“ („Das Unglück, meine Tochter, besteht nicht darin, verachtet zu werden, sondern nur darin, sich selbst zu verachten.“) Nach Ernst Jünger fängt mit dem Verlust der Selbstachtung „alles Unheil unter den Menschen an“ (Auf den Marmorklippen. Stuttgart 1960, S. 111). Wer sich nicht mehr hoch achtet und nicht mehr glaubt, daß er für das Höchste bestimmt ist – für die Gemeinschaft mit seinem Schöpfer –, der wird auch nicht mehr beten können, und es bleibt ihm wohl nur, sich im Diesseits und im Alltag möglichst angenehm und genußreich einzurichten, solange dies möglich ist.

Im Gebet wirft man sich aus sich selbst und aus der eigenen Durchschnittlichkeit und Kleingläubigkeit heraus einer anderen, größeren und höheren Wirklichkeit entgegen. Wir besitzen aber schon jetzt die „Anzahlung des Geistes“ (2 Kor 1,22). „Ich vergesse, was dahinten ist“ – und in mir an Zweifeln, Angst und Hoffnungslosigkeit –, „strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist, und jage auf das Ziel zu, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.“ (Phil 3,13 nach Elberfelder) Eben dies geschieht im Gebet. Deshalb ist der Grundzug der betenden Existenz der Übergang: schon von der Welt und den Dingen der Welt gelöst, aber noch nicht mit Gott vereinigt, ihn noch nicht schauend – wie jemand, der den Boden verlassen hat und der jetzt in der Luft schwebt, aber die Ankunft auf einem anderen Stern erwarten darf: schon abgehoben, aber noch nicht am Ziel angekommen.

 

Abbildung: Betende Hände (1508) von Albrecht Dürer (Wikimedia Commons)

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