LOGBUCH LXIII (18. August 2024). Von Daniel Zöllner
Klaus Heinrich (1927–2020) war Professor für Religionswissenschaft auf religionsphilosophischer Grundlage an der Freien Universität Berlin. Seine Habilitation erfolgte mit dem Aufsatzband Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie sowie mit der Schrift Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, die 1964 bei Suhrkamp erschien. Daß sich eine Auseinandersetzung mit diesem im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnlichen Werk auch weiterhin lohnt, möchte ich hier zeigen.
1. Parmenides und Jona – Widerstand gegen das Nichtsein
In dem Buch The Courage to Be von Paul Tillich, einem der vielleicht wichtigsten Anknüpfungspunkte für Klaus Heinrich, werden drei Formen der Bedrohung durch das Nichtsein unterschieden: die Bedrohung durch Schicksal und Tod, durch Leere und Sinnlosigkeit sowie durch Schuld und Verdammnis. Der titelgebende „Mut zum Sein“ ist jener Mut, der im Angesicht dieser Bedrohungen das eigene Sein, auch das geistige und moralische Sein, bejaht und erhält.
Die emblematischen Portalfiguren von Heinrichs Denken, Parmenides und Jona (hierzu empfiehlt sich besonders die Lektüre des gleichnamigen Textes in dem Aufsatzband Parmenides und Jona), leisten beide Widerstand gegen die Bedrohung durch das Nichtsein, doch ihre Strategien sind unterschiedlich: Parmenides leugnet die Realität der Bedrohung, erklärt sie zu bloßem Schein – so Heinrichs Deutung der parmenidischen Wendung: „das Nichtsein ist nicht“. Daß hingegen „das Sein ist“, dieser Satz des Parmenides ist für Heinrich nicht nur Tautologie oder eine frühe Formulierung des Satzes der Identität als Prinzip der Logik – vielmehr ist er Ausdruck jenes „Mutes zum Sein“, von dem Tillich spricht. Die Antwort des Parmenides auf die Bedrohung des Nichtseins ist die früheste Ausprägung des spezifisch stoischen Mutes zum Sein: der „Wissende“ durchschaut Leiden und Bedrohung als bloßen Schein und wendet sich dem wahren Sein zu. Klaus Heinrich kann sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben, denn sie bricht den Bund mit den „Unwissenden“, mit der „doppelköpfigen Menge“ (so der verächtliche Ausdruck des Parmenides), der das, was aus der Perspektive des „Wissenden“ bloßer Schein ist, als das eigentlich Wirkliche gilt.
Eine andere Antwort auf die Bedrohung durch das Nichtsein gibt der Verfasser des Buches über den Propheten Jona. Jona will – nicht anders als Parmenides – die Eindeutigkeit; er bricht – nicht anders als Parmenides – den Bund mit der Menge. Wo Parmenides nur die Scheinhaftigkeit des aus Sein und Nichts Gemischten und der doppelköpfigen Menge sich einreden will, fordert Jona sogar deren Vernichtung: Gott soll zu seinem Wort stehen und Ninive zerstören. Doch Gott antwortet Jona im letzten Vers des Buches: „Mich aber sollte nicht dauern Ninives, der großen Stadt, darin es mehr als zwölf Myriaden von Menschen gibt, die zwischen Rechts und Links nicht wissen zu unterscheiden, und Getiers die Menge?“ (Jona 4,11 in der Übersetzung von Martin Buber) Die Menge der Menschen, „die zwischen Rechts und Links nicht wissen zu unterscheiden“, ist die genaue Entsprechung zu der unwissenden, „doppelköpfigen“ Menge bei Parmenides. Indem Gott den Bund mit ihr wahrt, setzt der Verfasser des Buches Jona ein Zeichen gegen den offenen Bündnisbruch Jonas – und damit implizit auch gegen die Antwort des Parmenides.
2. Klaus Heinrichs Versuch, auch im Neinsagen das Bündnis zu wahren
Den Versuch, das Bündnis mit allem Seienden zu wahren, auch wenn es zu Protesten mannigfachen Anlaß gibt – dies erkenne ich als bestimmendes Motiv hinter Klaus Heinrichs „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“. Heinrichs „Nein“ ist kein Protest um des Protestierens willen, sondern es richtet sich gegen die Verzerrung des „Ja“ in Verrat und Selbstaufgabe. Auch im „Nein“ sucht Klaus Heinrich das Bündnis mit dem sich und die anderen Verratenden: Heinrichs „Nein“ bedeutet „noch eine Verteidigung des im Verneinten verzerrten Ja“.
Heinrichs Buch kennt, wie Tillichs Courage to Be, eine dreifache Bedrohung durch das Nichts: die Bedrohung des Identitätsverlustes, der Sprachlosigkeit und der Selbstzerstörung. Die Versuche, zu protestieren gegen diese Bedrohungen, nein zu ihnen zu sagen, ohne das Bündnis aufzugeben mit demjenigen, der ihnen erliegt (und mit dem Anteil in uns, der ihnen erliegt), ist – nach einem einleitenden Kapitel über das „Problem des Versuchs“ – das Grundmotiv der drei Hauptkapitel in Heinrichs Buch. Dazwischen finden sich Exkurse „Über die Quellen der Belehrung“, „Über Odysseus und Herrn K.“, „Über Eulenspiegel als Maieutiker“ und „Über Buddhismus als Ausweg“.
In seinem Titel ist Heinrichs Buch als „Versuch“, also als Essay gekennzeichnet. Diese Form ist bewusst gewählt, wie Heinrich im ersten, einleitenden Kapitel zeigt. Die Form des Essays entstand in der Neuzeit, indem sie der Abkehr von der deduktiven und der Entwicklung der induktiven Methode formalen literarischen Ausdruck verschaffte. Sie ist somit gerichtet gegen ein ursprungsmythisches Denken, das alles aus archai (Ursprüngen, Prinzipien, Axiomen) ableiten will und geht stattdessen vom konkreten Einzelnen aus. Ebenso sucht die induktive Methode des Essays die Unverbindlichkeit und Indifferenz des Schlußverfahrens der Analogie zu meiden. So protestiert der Essay bereits formal gegen zweierlei: „gegen Sprache, die sich einem deduktiven System von Zwängen unterwirft“ und „gegen Sprache, die eine von Zwängen zerrissene Wirklichkeit in Analogien sich auflösen läßt“ – also einerseits gegen Zwang und Totalitarismus, andererseits gegen Indifferenz.
3. Der „Sog“ als Gegenbewegung gegen die Enttäuschung in der „Schaumwelt“
Der historische Ausgangspunkt für Heinrichs Buch liegt in „einer bestimmten Art der Indifferenz, die sich, einige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, in Deutschland ausgebreitet hat“. „Schaum“ ist für Heinrich die zentrale Metapher zur Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit: eine „Metapher für Identitätsverlust“. Schaum ist ungreifbar, in gewisser Weise unwirklich, doch er kann ersticken. Die Bedrohung, die von der „Schaumwelt“ ausgeht, ist neben dem Identitätsverlust die Sprachlosigkeit und die Selbstzerstörung. Es gibt kein menschliches Leben in der „Schaumwelt“, das nicht in irgendeiner Weise Widerstand gegen diese Bedrohungen leistet – nicht selten, um ihnen gerade im Widerstand, im Neinsagen, zu verfallen.
Gegen Ende seines Buches kommt Heinrich zu dem Ergebnis, daß Identitätsverlust, Sprachlosigkeit und Selbstzerstörung zueinander in einem Verhältnis stehen, „in dem eins das andere verschärft. […] Angst des Identitätsverlustes kulminiert in Sprachlosigkeit und Angst der Sprachlosigkeit in Selbstzerstörung. Doch in dem Augenblick, in dem wir den Begriff der Selbstzerstörung gebrauchen, erkennen wir, daß die Bewegungen, von denen wir ausgegangen sind, sich sämtlich als Bewegungen der Selbstzerstörung und des in Selbstzerstörung treibenden Versuches, ihr zu entgehen, beschreiben lassen. Wir bemerken, daß sie alle die gleiche Bewegung anzunehmen scheinen: die des Sogs.“
In den beeindruckenden Überlegungen zum „Sog“, mit denen das Buch schließt, wird deutlich, wie Identitätsverlust und Sprachlosigkeit als sich verschärfende Bewegungen der Selbstzerstörung einem Gehabt-werden-Wollen entspringen. Die Enttäuschung über das mißlingende Leben in der „Schaumwelt“ bringt den selbstzerstörerischen Wunsch nach einer pervertierten Hingabe und Vereinigung hervor: „O daß wir unsere Ururahnen wären, / ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ (Gottfried Benn, den Heinrich nicht zitiert) – ein Wunsch, dessen Erfüllung aber zugleich den Wünschenden vernichten würde.
4. Motive des Widerstands gegen den „Sog“
Neben „Bündnis“ sind „Übersetzung“ und „Verkörperung“ des Sinns die zentralen Begriffe von Klaus Heinrichs Widerstands gegen den „Sog“ der Selbstzerstörung: „Übersetzung“ ist ein Begriff der Vermittlung von fremden Sphären, die einander Bündnispartner werden können. „Verkörperung“ ist gegen die Flucht vor Welt und Freiheit in eine Sphäre rein geistiger Offenbarungen gerichtet. Es gibt Sinn und Gnade nur als verkörperte inmitten der Nichtigkeit der „Schaumwelt“.
„Bündnis“, „Verkörperung“ und „Übersetzung“ sind, wie Heinrich auch offen sagt, theologische, christliche Begriffe. Die Religionsphilosophie Heinrichs bewegt sich an der Grenze zur Theologie. Sie überschreitet die Grenze nicht, doch sie wäre nicht ganz ohne die Anknüpfung an Begriffe und Motive der Bibel und der Theologie.
Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Freiburg i. Br. und Wien: ça ira 2021.
Abbildung: Klaus Heinrich im November 1982 (Klaus Baum / Wikimedia Commons)