Eine Frau der Passion: Die Magd, die Petrus erkannte

LOGBUCH LX (15. Mai 2024). Von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz


„Da sprach die Magd, die Türhüterin, zu Petrus: Bist nicht auch du einer der Jünger dieses Menschen? Er sprach: Ich bin es nicht.“ (Joh 18,17)

In der Leidensgeschichte gibt es mehrere Unbekannte, die, ohne es zu ahnen, Felsen ins Rutschen bringen. Übrigens ein Hinweis darauf, daß es kaum Nebensachen gibt. Offenbar steht wirklich alles mit allem in Beziehung, und der Schlag eines Schmetterlingsflügels löst anderswo einen Wirbelsturm aus. In diesem Fall wird nicht nur ein Fels ins Rutschen gebracht, er wird im Aufprall sogar zerschmettert. Petrus mit dem Beinamen der Fels prallt auf die Frage einer Magd und geht zu Bruch.

Die Frage der Magd war einfach, sie gehörte zur Pflicht einer Türhüterin. Der Hof des Hohenpriesters, wo die Angeklagten verhört wurden, war gesichert gegen unbefugte Zuhörer. Der Jünger, der während des Verhörs Jesu anwesend sein durfte, war vermutlich Johannes. Von ihm haben wir auch den ziemlich genauen Wortlaut des Verhörs, und ebenso vermutlich kannte er dort einen Mittelsmann (einen heimlichen Anhänger Jesu?), der ihn hereinließ. Als Johannes wiederum Petrus hereinholen wollte, bewachte die Magd pflichtgemäß den Zugang. Ihre Frage kann als Warnung aufgefaßt werden, auch als Hinweis auf eine Anzeige nach weiter oben, jedenfalls hört Petrus eine undeutliche Drohung darin.

Hat diese Frau überhaupt ein Profil, das heute interessieren könnte? Nochmals: Sie handelt im Bereich ihrer Pflicht. Dabei schwingt mit, daß sie Petrus halb und halb zu erkennen meint. Der Auflauf um Jesus war schon so groß geworden, gerade in den letzten Tagen in Jerusalem, daß auch in Zeiten ohne mediale Bildverbreitung das ein und andere Gesicht seiner Mitarbeiter sich einprägte. Nehmen wir an, daß sie ihn wiedererkannte, im Schein einiger Fackeln freilich undeutlich. Nehmen wir weiter an, daß ihre Frage wirklich sachlich gemeint war, vielleicht sogar als gutgemeinte Warnung. Warum löst sie eine so verzweifelte Lüge aus? Eindeutig trifft sie bei dem Gegenüber auf etwas, das in ihm und nicht so sehr in ihrer Frage liegt: auf eine sprungbereite Angst. Wie in einem chemischen Prozeß ist die Frage nur ein Katalysator: Selber unbeteiligt trifft die Magd bei Petrus auf ein verborgenes Problem, und heraus schießt ein Schwall von angestauter, unbewältigter Furcht und reißt ihn weg. Von sich selbst, von seiner doch wirklich vorhandenen Liebe, von seinem Ehrgefühl. Ein schauerlicher Vorgang: jemanden von dem abfallen zu sehen, was doch Inhalt seines ganzen Lebens war.

Wir wissen, was folgt: der Blick Jesu über die Feuer hinweg und der Zusammenbruch des Petrus in einem unendlichen Weinen (das Bach in der Matthäuspassion so unendlich lange ausströmen läßt). Ist die Magd damit schon aus dem Spiel? Bleiben wir bei dem Gedanken, daß es keine Nebenrollen gibt, wo es um das so rätselvolle Spiel Gottes mit den Menschen geht. Selbst wenn die Magd nichts von dem inneren Drama des Mannes gemerkt hat, selbst wenn sie sogar hämisch die Feigheit in seiner Lüge gespürt hätte – wozu hat Gott sie ins Spielfeld gesetzt? Diese Frage öffnet Augen.

Ein großes Thema jeder verwirrten Zeit (und jede ist unterschiedlich verwirrt) bleibt die Frage: Wozu das Ganze? Schöner sagt es Hölderlin, allerdings ohne Antwort: Wohin denn ich? Ein anderer Denker, der von Schwermut geplagte Kierkegaard, beschreibt den Acht-Wege-Winkel in einem Kopenhagener Park, auf den eben acht Wege zuführen und wieder achtfach hinausführen, aber er bleibt davor stehen und ist gelähmt: Welcher Weg ist meiner? Es ist so unendlich gleichgültig, welchen er einschlägt … Richtung meint Sinn, aber Sinn ist verloren. Richtung kann man nur einschlagen, wenn es ein Ziel gibt. Oder einen Mitspieler, der das Ziel angibt. Gibt es den Mitspieler, sogar einen Spielleiter? Für die Spätmoderne und ihre verwirrte Selbstsuche ist diese Frage abgründig wichtig.

Auch die Türhüterin agiert in einem ihr unbekannten Spiel. Sie muß alltäglich nur wissen, wann sie eine Türe auf- und wann sie eine zumacht. Hier tut sie beides auf einmal: Als sie Petrus den Zutritt verwehren will, stößt sie unabsichtlich eine andere Tür auf – ohne es zu wissen. Sie schickt ihn in den Abgrund der Scham, bitter und brennend. Das ist der Dienst, den sie tut, und hier wie so oft tut er weh: andere in eine Selbsterkenntnis schicken, wo sie nicht hinwollen. Andere zu einem Schritt aus dem Acht-Wege-Winkel zwingen. Später wird Petrus selber öffnen und schließen, das sind nur andere Worte für Jesu Auftrag an ihn: lösen und binden. Er wird sogar zum „Verschluß-Stein der Unterwelt“, wie es die Antike nennt. Die Unterwelt ist durch eine porta inferi, eine Tür nach unten, gefährlich zugänglich, wie schon die Heiden wissen; sie wird durch einen runden Stein (mundus) verschlossen. Dieser Stein muß Petrus werden, er muß die Unterwelt unten halten, wo sie hingehört. Dazu lernt er sie kennen, dazu stürzt er ab.

Wie heißt das göttliche Spiel? Es heißt: die unendlich vielen Winkelzüge, die falschen vor allem, ordnen. Wir helfen einander, oder hindern einander, oder stoßen einander, ohne es zu wissen, oft ohne es zu wollen. Aber es gibt den Spielleiter, der die Spielzüge überblickt. Heißt das, daß er uns blind gebraucht, oder gegen unseren Willen? Da wäre wieder der Erzverdacht, daß er es nicht gut mit uns meint, herzlos Schicksale durcheinanderwirft, Freiheit nur vorschwindelt. Es ist umgekehrt: Auch die Kurzsichtigen werden einmal sehen, wie er führt und wieviel Verpatztes er wieder auf die Reihe bringt. Dieses souveräne Spiel wird staunen machen. Der Ingeborg-Psalter, eine prachtvolle französische Buchmalerei, zeigt Christus im Brennenden Dornbusch. Mose bindet sich vor ihm die Sandalen auf; aber die Ziegen und Schafe um ihn grasen weiter und merken nichts; eine Ziege auf Hinterbeinen frißt sogar an dem brennenden Gottesbusch. Auch sie merkt nichts – und es ist doch ein einziger heiliger Vorgang. Es gibt nur eine Welt, für die Ziegen ein Futter, für Mose der Baum der Herrlichkeit. Die Welt umfaßt alles, was geschieht; der Spielleiter sieht alles, was geschieht. Er ordnet es.

Was die Magd tut und sagt, weiß sie selbst nicht in der Tiefe, aber es wird entscheidend für Petrus. Ob sie beide es sofort merken, ist unwichtig; irgendwann werden sie es begreifen. Vielleicht ist sie sogar später in die neue Gruppe um ihn eingetreten. Dann wird sie ihre Frage zu einem anderen Satz umbauen: „Auch du, gerade du, bist einer der Jünger dieses Menschen.“ Man kann fast gänzlich auf theologische Begriffe, auf einen verschlüsselten Fachjargon verzichten – weil er gar nicht notwendig ist. Jeder wird einmal und von irgendeiner Magd gefragt: Bist nicht auch du einer der Jünger dieses Menschen? Über die Feuer hinweg sehen uns dabei die Augen Jesu an.


Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus dem Buch von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Frauen der Passion. Sieben Blicke. Be+Be Verlag, Heiligenkreuz 2024. ISBN 978-3-903518-08-7. Wir bedanken uns bei Autorin und Verlag für die Nachdruckerlaubnis. Das Buch kann hier direkt bestellt werden.

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Abbildung: Die Verleugnung des Petrus (1610) von Caravaggio (Wikimedia Commons)

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