Ein ungebetener Weihnachtsgast

LOGBUCH XXXVII (25. Dezember 2022). Von Daniel Zöllner

 

Er ist wieder tot. Wir haben ihn getötet. Nachdem er wiedergekommen war, töteten wir ihn abermals, aber diesmal erstickte er nicht am Kreuz, sondern in einer überheizten Stube voll süßlichen Duftes. Wir konnten ihn nicht gebrauchen, denn er kam nicht als der Sozialist, Klimaschützer, Naturbursche und Menschenfreund, den wir erwartet hatten. Ja, wir hatten einen netten Freund, einen Kumpel erwartet, der uns sachte auf die Schulter klopfen und uns sagen würde: „Alles ist okay. Du bist okay, ich bin okay, die anderen sind okay. Entspannt euch!“ Er hätte uns meinetwegen auch ein wenig auf die blutlosen Lippen küssen können wie damals den Großinquisitor.

Nein, so kam er diesmal nicht. Stattdessen kam der Herr, schrecklich in seiner Herrlichkeit und als Richter, der das Schwert zu führen wußte. Wir nahmen ihm freundlich das Schwert aus der Hand, rückten ihm einen Stuhl vor den Tisch, reichten ihm Pantoffeln, drehten (trotz Klimawandel) die Heizung auf, stellten einen Teller vor ihn – einen Teller voller Weihnachtsplätzchen der süßesten Sorte – und warteten darauf, daß er davon aß. Wir schalteten eine CD mit Weihnachtsliedern an: Schneeflöckchen, glänzender Wald, holder Knabe, musizierende Hirten …

Doch als er dann nicht aß und uns mit seinen dunklen, abgrundtiefen Augen weiterhin anstarrte, begannen wir ihn zu füttern und zu mästen wie ein Tier. Er mußte essen, und zwar so lange, bis er nicht mehr konnte und die Plätzchenmasse fast erbrach. Dann flößten wir ihm Punsch ein, der sein Kinn besudelte und sein Gewand bekleckerte wie Theaterblut. Aber die Augen waren immer noch da und machten uns Angst. Da setzten wir ihm eine billige Jesus-Maske aus dem Kostümgeschäft auf, denn so wurde er, wie wir ihn haben wollten: süßlich lächelnd, langhaarig, harmlos. Das schreckliche Leuchten aus seinen Augen ließ sich so zum Verschwinden bringen.

Ich vermute, daß er unter der Maske schon Schwierigkeiten bekam, zu atmen, aber er wehrte sich nicht. Und gerade das war viel schlimmer, als wenn er um sich geschlagen hätte. Es war geradezu unerträglich. Also mußten wir ihm auch die Kleider vom Leib reißen und ihn so kleiden, wie wir es wollten, mit all dem billigen Tand aus dem Supermarkt, mit Plastiksandalen und Umhang. Dann setzten wir ihm noch eine Papierkrone auf, sodaß er fast zum Lachen aussah, und was da an Leuchten um sein Haupt gewesen war, verschwand.

Doch warum sagte er noch immer nichts? Es war immer weniger zu ertragen! Warum sagte er nichts gegen den Klimawandel, unsere Ausbeutung der Natur, die weltweiten Ungerechtigkeiten, den Kapitalismus? Warum ermahnte er uns nicht, bessere Menschen zu werden? Er schwieg. Nichts tat er von dem, was er eigentlich hätte tun sollen. Und das war über die Maßen schrecklich und brannte in unseren Herzen. Es ging nicht anders, wir mußten ihn ersticken. Es war Notwehr. Wir preßten ihm den leeren Plätzchenteller vor die Maske, drehten die Heizung auf und sangen, bis er zu atmen aufhörte und die Nacht wirklich still wurde. Sein Haupt kippte lautlos vornüber auf den Tisch. Es war vollbracht. Jetzt haben wir endlich Ruhe.

 

Abbildung: Die Geißelung Christi (1607) von Caravaggio (Wikimedia Commons)

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