Ein Klassiker mit marianischen Neigungen? Über Wolfgang Kochs neues Goethe-Buch.

Logbuch XX (13. Juli 2021). Von Stefan Hartmann

 

Der bekannte Kupferstich „Marientod“ des Martin Schongauer bildet das Cover und ein Zentralmotiv von Wolfgang Kochs großem Essay „Marianisches bei Goethe“ (Kisslegg 2021). Zuerst gesehen hat Goethe den Abdruck bei einer Wallfahrt nach Maria Einsiedeln mit seinem später katholisch gewordenen Freund Friedrich Leopold zu Stolberg im Jahr 1775. Er wollte ihn unbedingt erwerben, ersteigerte ihn schließlich 1819 „mit der Ungeduld eines Liebhabers“ und notierte kurz vor seinem Tod: „Altdeutsche Kupfer betrachtet, besonders den köstlichen Abdruck vom Hinscheiden der Maria durch Martin Schön“. Koch ist das Bild ein Ausgangspunkt zu einer „zarten Hermeneutik“ des Marianischen in Leben und Werk Johann Wolfgang Goethes.

Es gibt viele Begegnungen des vordergründig säkular-ungläubigen Protestanten mit dem Katholischen. Peter Wust (1884–1940), der aus dem Saarland stammende „Philosoph von Münster“, sah bei Goethe eine „anima naturaliter christiana“ (S. 39) und einen „geheimen Katholizismus“. In seiner Geburtsstadt Frankfurt hatte Goethe Kontakte zu katholischen Kreisen und zu dem ihn begeisternden katholischen Dekan Friedrich Damian Dumeiz, der auch erste Einblicke in die Liturgie und den Kontakt zur katholischen Familie Brentano vermittelte. Katholischem begegnete Goethe in einer späteren Lebensphase auch im Kreis um Amalia Fürstin von Gallitzin, die er nach der „Campagne in Frankreich“ 1792 in Münster besuchte. Katholische Bildeindrücke hatte er aus dem vom Bildersturm weitgehend verschonten Thüringen und vor allen auf seiner Reise nach Italien (1786–1788) gesammelt. Wilhelm von Humboldt berichtete ihm von der Faszination der Schwarzen Madonna (Morenata) des Klosters am katalanischen Montserrat. Bekannt ist Goethes Verehrung für Philipp Neri, den Apostel Roms, und die Wallfahrt zum Bingener Rochusberg. Daran schließen sich Gedichte über den Beichtheiligen Johannes Nepomuk und den „Dornburger Montserrat“ (S. 243-255) an.

Vor allem der Zug zum Objektiven und zur betrachtend-bewundernden Schau machen Goethe trotz mancher spöttischen Bemerkungen für das Katholische auffällig kompatibel. Romano Guardini betonte in einer von Josef Pieper begeistert mitgehörten Rede auf Burg Rothenfels zum 175. Geburtstag Goethes dessen Nähe zu Thomas von Aquin als Vertreter des objektiv-klassischen Geistes, der die Wirklichkeit wahrnimmt und ihr keine interpretatorische Gewalt antut. Mit dem Goetheschen Blick als „Schau der Gestalt“ eröffnet Hans Urs von Balthasar sein mehrbändiges Werk „Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik“. Auch Wolfgang Koch betreibt keine apologetische Vereinnahmung, sondern hebt in „zarter Hermeneutik“ kundig und transparent das Marianische vor allem in den Alterswerken „Faust II“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ hervor. Dabei kommt ihm in seiner Interpretation der Farbenlehre und der meteorologisch-astronomischen Abschnitte seine Ausbildung als theoretischer Physiker zugute, in der germanistischen Deutung seine Kenntnis von Fachautoren wie Albrecht Schöne, Erich Trunz, Ilse Graham und Peter Hofmann.

Wie schon die Mignon aus den „Lehrjahren“ ist die Makarie aus den „Wanderjahren“ eine an Maria angelehnte Frauenfigur mit der „Heiligen Familie“ als Hintergrund. Was im großen zweiteiligen Faustdrama mit einem Osterspaziergang begann, vollendet sich in der Entelechie der Bergschluchtenszene mit der himmlischen „Mater Gloriosa“ und dem hl. Bernhard als „Doctor Marianus“: „Das (marianisch) Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“

Koch ist selbst überzeugter Katholik, zieht gelegentlich behutsame Parallelen zu Texten von Papst Benedikt XVI. und dem Philosophen Hans-Eduard Hengstenberg („Die Marienverehrung“, Dettelbach ²1996) über Maria und die prophetische Botschaft von Fatima, die mit Josef Pieper als „Widerfahrnis der offenbarenden göttlichen Inspiration“ (S. 25, 240) bezeichnet werden könnte.

Goethes positive Wertung der sieben katholischen Sakramente, einschließlich der Beichte und der Priesterweihe, in der Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ runden Kochs sanfte These von der verborgenen Marianität und Katholizität des Weimarer Klassikers ab, lassen dabei aber noch viel Raum zu weiterem Forschen und Entdecken. Romano Guardini, der durchaus Kritisches bei Goethe sah, bleibt aktuell mit dem Satz, daß „jener Goethe, welcher der kommenden Zeit bedeutsam wird, wohl noch nicht deutlich gesehen“ (S. 11) werde. Das Marianische im „verbum cordis“ Goethes könnte dazu eine den blinden Fleck überwindende Hermeneutik sein.

 

Wolfgang Koch: Marianisches bei Goethe. Fe-Verlag, Kisslegg 2021; Pb., 360 S. ISBN 978-3-86357-298-2, 14,80 EUR

(Hier kann das Buch bestellt werden.)

 

Zum Autor: Stefan Hartmann, Lic. theol., Dr. theol., war Universitätsseelsorger in Wien und Pfarrer des Erzbistums Bamberg. Er wirkt heute in Bamberg als freier Redner und Publizist. Jüngste Buchveröffentlichung: „Quid est veritas? Theologische Essays und Portraits" (Be&Be, Heiligenkreuz 2021).

 

Bild: Martin Schongauer (um 1450–1491): „Tod Mariä“, Kupferstich, entnommen dem Cover des besprochenen Buches.

 

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