Die Liebe zu den Türmen - Präliminarien zur Zeitkritik

 

LOGBUCH I (30. September 2019). Von Christoph Fackelmann

 

1.

 

"Stifte die Liebe zu den Türmen, denn sie beherrschen die Wüste." An diesen Satz knüpfte Martin Heidegger an, als er im Jahr 1960 eine improvisierte Tischrede zur Feier des großen katholischen Publizisten Ludwig von Ficker hielt, dem die Freie Universität Berlin ein Ehrendoktorat verliehen hatte. Mit kurzen, aber dichten Worten deutete er das unkonventionelle Lebensamt des Herausgebers der legendären Zeitschrift Der Brenner, der an der Seite seiner Autoren und hervorragender Zeitgenossen - mit ihnen, gegen sie, in Stufen über sie hinaus - zum Glauben vorgedrungen war, als das Amt eines "Stiftenden". Er verlieh damit der Aufgabe, die sich Ficker seit den Tagen seiner Mentorschaft für Georg Trakl gesetzt hatte, einen besonderen Horizont.

Es kann uns weiterhelfen, dem deutenden Gedanken Heideggers noch einmal nachzugehen: zum Auftakt einer Reihe, die das Beobachten und Nachdenken über geistige Angelegenheiten in einer ganz bestimmten Weise beleben will. Wenn in diesem "Logbuch" auf dem Forum des Lepanto-Verlags künftig in kultur- und zeitkritischer Perspektive Aktuelles aus Vergangenheit und Gegenwart aufgegriffen wird, so soll das nämlich nicht um der Aktualität des Tages willen geschehen, auch nicht zum Zwecke des Mitmachens und Einstimmens. Wohl aber soll sich hier niemand ein Blatt vor den Mund nehmen müssen im Widerspruch gegen Wirklichkeitssimulationen und Wahrheitssysteme. Allen Logbucheinträgen gemeinsam sei der Wille, ihr Widerwort gegen den Tag an die "großen Themen" zurückzubinden und tiefere Zusammenhänge - der Philosophie, des Glaubens, der Überlieferung - herzustellen: Turmhöhe und Brunnentiefe dort, wo nur noch das flache, staubige Nichts die Szene zu bestimmen scheint. Wir gehen also die eigentliche, die geistige Klimakatastrophe an - diejenige, die das Prioritätsrecht vor allen anderen genießt!

 

2.

 

Der Satz, den Heidegger wählt, überträgt eine Sentenz aus La citadelle (1948), dem rätselhaften Nachlaßwerk Antoine de Saint-Exupérys: "Fonde l'amour des tours qui dominent les sables." In der geläufigen Übersetzung der "Stadt in der Wüste", die von Oswalt von Nostitz stammt, lautet die Stelle: "Erschaffe die Liebe zu den Türmen, die die Wüste beherrschen." Der Philosoph macht mithin aus dem Relativ- einen Kausalsatz, und er wählt für das französische Verbum "fonder, fonde" das deutsche "stiften, stifte". Spitzt er durch ersteres die Bedeutung des Satzes eigentümlich zu, so rückt er mit zweiterem näher an die Intention des Originals als die offizielle Übersetzung: Denn es geht im Zusammenhang dieses Motivstrangs der Citadelle wirklich weit eher um ein "Stiften", "Gründen", "Stützen", um das Legen des geistigen Fundaments. "Erschaffen" meint also zuviel. Es ist nicht an das künstlerische Kreieren, das Ins-Leben-Rufen nach dem Modus des "Als-Ob", gedacht und ausdrücklich auch nicht an die Erfindung, mit der das fragliche Fabrizierertum des Menschen, das technische In-die-Welt-Setzen, einhergeht.

Freilich, dem Symbol der Türme als himmelstürmender Bauwerke haftet von jeher etwas von der babylonischen Revolte an, sofern es nicht in das Bild des Tempels, das Vor-Bild des Himmlischen Jerusalem mündet. Darauf wird Heidegger Bedacht nehmen. Stiften bedeutet hier die geistige Tat, etwas Großes in das gemeinsame Bewußtsein zu pflanzen. Und das Hegen des Bildes, der geistigen Figur, die von diesem Großen - dem "Turm" - existiert, erscheint als die vorzügliche, alles entscheidende Aufgabe des politischen Führers. Aus der Gabe des beständigen Ansporns zum Großen und Hohen - der "Liebe zu den Türmen" - wachsen, wie in natürlicher Entwicklung begriffen, die verwirklichenden Pläne, die fügenden Bauten und gemeinschaftlichen Gebilde.

Zur literarischen Beschaffenheit der "Stadt in der Wüste" zählt wesentlich der Aspekt des Fürstenspiegels. Ein wenig apokryph und esoterisch zwar, aber das ist Teil der zauberhaft naiven Weisheitssprache, die das Buch bestimmt und deren Ton auch aus dem einzigen heute noch vertrauten Werk des französischen Dichters, dem "Kinderbuch" vom Kleinen Prinzen (1943), in Erinnerung ist. Saint-Exup
érys Berberfürst belehrt seinen Sohn in der Citadelle: "Erschaffen" - also "Stiften" - "bedeutet, daß du den anderen in eine Lage versetzt, von der aus er die Welt sieht, wie du es wünschst, nicht aber, daß du ihm eine neue Welt anbietest." Daß hier ein selbstverständliches Vertrauen in den "höheren Menschen" anwesend ist (um im Duktus Nietzsches zu reden), ist unbestreitbar. Abstand und Unterschied zum gewöhnlichen, gemeinen, aus immer Gleichen bestehenden Schlag des Menschen leugnet dieses Denken nicht. Damit korelliert, daß es auf das Gegebene vertraut und sich der utopistischen Verführung verweigert, die auf das Inexistente, also gerade nicht Gegebene und daher stets neu zu Machende setzt. Indes muß die ureigene Tat des Fürsten ein "unsichtbarer Schöpfungsakt" bleiben, nicht etwa eine der planen Ermächtigung: "Das große Bild gibt sich nicht als Bild zu erkennen: es ist. Oder genauer: du befindest dich darin." Sie besteht im Stiften des Zusammenhangs, ohne den das Gebäude - der "Tempel", das heißt auch das Werk, die Kultur, Sitte und Gesetz, der Staat - in die "Steine" zerfiele, aus denen es zusammengesetzt ist und die für sich weder Sinn noch Zweck besitzen.

"Es ist mir ganz gleich, ob ich im Krieg umkomme. Was wird denn von dem bleiben, was ich liebte? Ich spreche nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Bräuchen, den unersetzlichen Akzenten, von einem gewissen geistigen Licht." Das hatte Saint-Exupéry, der Schriftsteller und Pilot, in einem anderen Kontext notiert, dem zu Lebzeiten ebenfalls unveröffentlichten Brief an einen General, geschrieben wenige Monate, bevor er auf seinem letzten Aufklärungsflug verscholl. "Die Dinge, die erhalten bleiben, sind mir ganz gleichgültig", setzte er dort eine weitere Geste der Distanz: "Worauf es ankommt, das ist eine gewisse Anordnung der Dinge. Die Kultur ist ein unsichtbares Gut, da sie ja nicht die Dinge betrifft, sondern die unsichtbaren Bande, die die Dinge miteinander verknüpfen: so und nicht anders."


3.

 

Gewappnet mit einem solchen Kulturbegriff, kehren wir zu der Reflexion Heideggers zurück. Er beginnt seine nähere Erwägung des Satzes aus der Citadelle mit einer kulturkritischen Ausdeutung der Metapher: "Die Wüste ist der Bereich, wo es kein Wachstum gibt. Nicht nur nicht gibt, sondern die Wüste ist der Bereich, der nichts wachsen läßt ... Unheimlicher als Zerstörung ist Verwüstung. Und in einem gewissen, weit gedachten, aber gleichwohl nicht verneinend verstandenen Sinn möchte ich sagen, daß wir in einem Zeitalter der Verwüstung leben". "Nicht verneinend": Der "unheimliche" Charakter unseres Zeitalters - man kann wohl sagen, daß wir auch heute noch mitten darin stecken - gestattet dem kritischen Betrachter keine Überheblichkeit. Er, der sich so fremd fühlt, wird die Verwüstung dennoch als Wesensteil seiner selbst annehmen; alles andere wäre eitel und töricht.

Heidegger grenzt seinen Befund vom Leben in dem "Zeitalter der Verwüstung" ein: Er treffe zu, "insofern kein Wachstum mehr ist, sondern alles der Planung und Berechnung unterworfen wird bis in die Sprache, die in absehbarer Zeit zu einem Instrument der Information umgebildet sein wird." Dieser Prognose liegt jene damals allgegenwärtige Drohung zugrunde, die ein Robotermenschentum heraufsteigen sieht, das ein Fließbandleben fristet. Aus heutiger Erfahrung wäre sie zu revidieren, vielmehr zu modifizieren: Das große Problem der Sprache in diesem Zeitalter besteht nicht in der völligen Funktionalisierung, sondern in der entsetzlichen existenziellen Leere der Phrase, die sich dort eingenistet hat, wo das technische "Gestell" nicht ist und wo früher das geistige Leben war. Diese Leere einer sprachlosen Sprache erscheint freilich nur als die Kehrseite der von Heidegger attestierten Instrumentalisierung: In ihr regiert, wie Saint-Exup
éry in dem erwähnten Brief vor dem Hintergrund der modernen Kriegskulisse als einer schieren "Herdenaktion" formulierte, "die Stimme des Propagandaroboters".

"Stifte die Liebe zu den Türmen, denn sie beherrschen die Wüste", wiederholt Heidegger nun die aus dem Gedächtnis geholte Sentenz, um im zweiten Teil seiner Reflexion den Sinnakzent langsam zu verschieben: vom Satzende, von dem er ausging, zum Satzanfang, dem Teil, der das Liebesgebot ausspricht. Zunächst gibt er dem Bild der "Türme" eine wichtige Wendung: "Die Türme! Der Dichter dachte an andere Türme, es gibt aber Türme, von denen herab es läutet und die den Stundengang der Tage und Jahre zeigen. Von diesen Türmen läutet, wenn man es tiefer deutet, das Geläut der Stille: jenes Sagen, in dem die Dichter und die Denkenden zu sprechen versuchen."

Das formuliert einen hohen Anspruch. Heute ist die "Verwüstung" so weit fortgeschritten, daß sie auch ihn abgetragen und verflüchtigt hat. Solches "Sagen" kennt unsere Zeit nicht mehr, daher auch nicht jene "Stille". Aber das heißt nicht, daß man darauf verzichten solle, sich mit Heidegger den Bildsprung zu den Glockentürmen als den Gotteshäusern und zu der ihnen eigenen, von ihnen verliehenen Sprache der Stille ins Gedächtnis zu rufen. (Und hat denn wirklich der Dichter diese Assoziation ausgeschlossen?)

Danach wird der Akzent weiter auf den Imperativ verschoben, der, wie bereits erwähnt, gegen die Gewohnheit übersetzt ist: "Stiften heißt: Gründen und schenken. Stifte die Liebe!" Nun hält Heidegger bei dieser Stelle inne, und er unterbricht gezielt hier, beim Trägerwort des Präpositionalgefüges. An der "Liebe zu den Türmen" ist ja die "Liebe" das Entscheidende. Umso bemerkenswerter ist es, daß sich der Philosoph an dieser Stelle Hilfe bei einem Kirchenvater holt. Das ist nicht bloß ein Tribut an den Adressaten der Tischrede, Ludwig von Ficker, dessen Lebensgabe es war, anderen durch seine Einsicht und sein Vertrauen gemäß ihrem eigenen Gesetz in die Erscheinung zu verhelfen: "Wohl die tiefste Deutung dessen, was Liebe ist, steht bei Augustinus, in dem Wort, das lautet: amo volo ut sis, ich liebe, das heißt, ich will, daß das Geliebte sei, was es ist. Liebe ist das Sein-lassen in einem tieferen Sinn, demgemäß es das Wesen hervorruft."

Der letzte Satz kann die erhebende Summe aus der Bild- und Gedankenverschiebung ziehen, die der deutsche Philosoph dem Satz des französischen Dichters angedeihen ließ: "Diese Liebe zu stiften, die das Wesenhafte sein läßt und nach dem genannten Wort die Liebe zu den Türmen ist, von denen das Geläut der Stille hörbar wird, diese Liebe (zu) stiften, zu gründen und zu schenken, übersteigt alle Leistung der Wissenschaft und alle Tat."

 

4.

 

Wenn wir die Metaphern der "Verwüstung" oder des "Nichts" zur Bezeichnung des geschichtlichen Standorts verwenden, in dem wir uns befinden, so ist das weder neu noch originell. Die Antimoderne, die die Moderne begleitet und die in der "Postmoderne" verzweifelte Blüten treibt, hat sich von Anfang an dieser Bildlichkeit bedient, oft mit viel Selbstgerechtigkeit und Engstirnigkeit vermischt. Es kann auch gar kein Zweifel daran bestehen, daß selbst unsere wie jede Zeit die menschliche Güte kennt, daß das tiefe wie das schöpferische Denken in ihr wohnen (wenn auch nicht zuhause sind), daß sie auch die "schönen Seelen", ja sogar die "gottgelobten Herzen" unter sich wüßte, hätte sie nur Augen und Ohren für sie.

Es ist die "Stimme des Propagandaroboters", also die Maschinerie der Phrase, die die Verwüstung ausmacht, deren Eindruck deshalb so total ist, weil wir es schon mit der Abwesenheit alles Wachstums zu tun haben, nicht bloß mit einer verdorbenen Ernte. Ausgesetzt einem dichten Schleier aus Ablenkungssystemen, medialen Käfigen, der omnipräsenten Politik des Scheins, dem professionell falschen Zeugnis der Konsumdressur, ist sich unser Menschenschlag gar nicht mehr des Sündenpfuhls bewußt, in dem er sich täglich bewegt, der tiefen, abstoßenden, lächerlichen Erzsündigkeit, mit der er sich umgeben hat. Es hat auch gar keinen Sinn, dem Zustand noch mit diesen alten Bezeichnungen beikommen zu wollen, denen die apokalyptischen Ich-AGs mit einer Miene paradiesischen Unwissens begegnen. Wir sind, wie es Saint-Exup
éry ausdrückte, wahrlich "ausgetrockneter [...] als Ziegelsteine". Deshalb gebe es zunächst "nur ein Problem, ein einziges in der Welt", brachte er die Lage, in der wir ein dreiviertel Jahrhundert später immer noch halten, auf den Punkt: "Wie kann man den Menschen eine geistige Bedeutung, eine geistige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie herniedertauen lassen, was einem Gregorianischen Gesang gleicht!"

Auch das ist eine Metapher, eine gewagte sogar, noch dazu von jemand, dem erklärtermaßen der Glaube fehlte. Aber gerade aus solchem Mund erhöht es die Herausforderung, die sie darstellt. Dieses Forum möchte sich in aller Demut und in kleinen und kleinsten Schritten einem derartigen Bewässerungsprojekt verschreiben. Es versteht unter dem Stiften der Liebe zu den Türmen inmitten der Wüste nicht mehr und nicht weniger als das Wecken und das Kultivieren verlorener Güter, der Boten heimlicher Zusammenhänge und höherer Ordnungen, die wie Tautropfen der Verwandlung auf uns gekommen sind und wider alle Aussicht weiter zu kommen vermögen.


***

Literaturhinweise: Martin Heideggers Tischrede aus Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin an Ludwig von Ficker ist enthalten in: Ludwig von Ficker: Denkzettel und Danksagungen. Aufsätze, Reden. Hrsg. v. Franz Seyr. München: Kösel-Verlag 1967, S. 348f. "Die Stadt in der Wüste" bildet Band 2 der Gesammelten Schriften von Antoine de Saint-Exupéry, Düsseldorf: Karl Rauch Verlag 1959, später München: Deutscher Taschenbuch Verlag 31985 (das Zitat auf S. 238). Der "Brief an einen General", geschrieben im Juli 1943, findet sich in Band 3 dieser Ausgabe (S. 221-230).


 

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