LOGBUCH LXVI (15. November 2024). Von Ruth Wahlster
Mit den 1924 im Theatiner Verlag erschienenen Hymnen an die Kirche gelang Gertrud von le Fort mit 48 Jahren ein schlagartiger Durchbruch als Dichterin. Bis ins Ausland reichte die Welle einer begeisterten Resonanz. Inmitten einer Zeit allgemeiner Erschütterung über den Zusammenbruch der alten europäischen Ordnungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, in einem Klima der kulturellen Verunsicherung und der Orientierungssuche sowie im Gefälle eines um sich greifenden Nihilismus hatte le Fort mit den Hymnen einen Ton getroffen, der aufhorchen ließ. Passend zum hundertjährigen Jubiläum ihres Erscheinens bildeten die Hymnen denn auch einen Schwerpunkt der diesjährigen Jahrestagung der Gertrud von le Fort-Gesellschaft, die vom 6. bis 8. September unter dem Thema Kirche bei Gertrud von le Fort: Hort der Ordnung – Hort der Barmherzigkeit in das schöne und hoch über der Stadt Passau gelegene Exerzitien- und Bildungshaus auf Mariahilf einlud.
Von den Hymnen, die eine Lebenswende der Dichterin markieren, ausgehend, wies die Vorsitzende Gudrun Trausmuth (Wien) in ihrer Einführung darauf hin, daß der Weg der Seele zu Gott seit den Hymnen der thematische Schwerpunkt der meisten Werke der Dichterin bilde. Zwei Jahre vor ihrer Konversion erschienen, beschreiben die Hymnen einen weiten inneren Weg zur Kirche, der in allen Werken le Forts in einem zugleich dramatischen Spannungsfeld stehe. Nichts sei glatt im Hören und Folgen des Rufes der Kirche, die herausfordere und auch zerbreche: „Nie wieder werde ich wandern unter dem Stern meiner Augen und am Stabe meiner Kraft!“ (Heimweg IV) Dieser zweifachen Spur gelte es im Werk der Dichterin nachzugehen, bilde sich diese in den verschiedenen Romanen und Novellen doch in sehr unterschiedlichen Spannungsfeldern ab. Gudrun Trausmuth erinnerte in diesem Zusammenhang auch an die heftige Kontroverse, die der zweite Band des Romans Das Schweißtuch der Veronika, Der Kranz der Engel, nach dem Krieg durch das darin hypostasierte Eheverständnis in Kreisen der katholischen Kirche auslöste. Aber auch in der gegenwärtigen Dürre des Kirchendiskurses erweise sich le Forts Sprechen über die Kirche in seiner Andersartigkeit und unverbrauchten Frische als belebend und heilsam.
Gundula Harand (Trumau), die 2014 eine Neuauflage der Hymnen an die Kirche vorgelegt hatte, führte in ihrem Vortrag über Gestalt und Wesen der Kirche in le Forts Hymnen in die entstehungsgeschichtlichen, theologischen wie sprachlichen Grundlagen und Eigenarten der Hymnen ein. Als ihr persönlichstes wie zugleich überpersönlichstes Werk bezeugen die Hymnen nach den Worten le Forts den Heimweg einer Seele, die eine „individuell bestimmte, einsame Religiosität“ überwinde und in einem Prozeß der durch die Kirche vermittelten Öffnung und inneren Reinigung neugeboren werde.
An zahlreichen repräsentativen Beispielen und Vergleichen zeigte Gundula Harand, wie stark die Hymnen von der Glaubenslehre Ernst Troeltschs, des akademischen Lehrers der Dichterin, geprägt sind, aber auch über diese hinausgehen. Harand wies auf Maria Eschbach hin, die über die Hymnen die erste philologische Dissertation verfaßt hatte. Eschbach hatte darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn es auch für viele so ausgesehen habe, als gehöre le Fort durch ihre Beschäftigung mit der Glaubenslehre zu Troeltschs Protestantismus und dessen das Dogma auflösender Geisteshaltung, die Hymnen an die Kirche diese Ansicht insofern korrigierten, als sich mit der Hingabe der Seele an die übernatürliche Wahrheit und Liebe der Kirche auch die Anerkennung der kirchlichen Lehre ausspreche. Am Beispiel des Prologs zeigte Harand, daß die Subjektphilosophie, von der die Glaubenslehre bestimmt sei, Klima und Entstehungsraum der Hymnen präge. So seien diese auch als Auseinandersetzung mit den Positionen des Lehrers zu lesen.
Die Hymnen zeichneten ein weites, universales Kirchenbild. Die Gestalt einer unsichtbaren, die Menschheit umfassenden Kirche trete in ihnen hervor (Heiligkeit der Kirche, Corpus Christi Mysticum). Diesem Vorgang entspreche auch die in der Tradition der Psalmendichtung stehende Bildhaftigkeit der Hymnen, in der das Mysterium der Kirche im Bild des Schleiers ausgedrückt werde. Erst am Ende der Tage auf Erden werde das Antlitz der Kirche in der Schau Gottes befreit. Sehr eindrücklich verdeutlichte Harand, wie sich die Dichterin in den Hymnen in die Tradition der kirchlichen Lehre stelle, vorausahnend korrespondierend mit der Enzyklika Pius’ XII. Mystici Corporis Christi und den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils.
In drei Lesekreisen bestand im Anschluß die Möglichkeit einer vertieften Beschäftigung mit ausgewählten Texten aus dem Doppelroman Das Schweißtuch der Veronika und den großen Novellen aus den verschiedenen Lebensphasen der Dichterin.
Am frühen Nachmittag führte Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz im Rahmen einer Stadtbesichtigung in Adalbert Stifters Witiko (1865–67) ein, und zwar anhand der wenig bekannten Bearbeitung durch die katholische Schriftstellerin Ida Friederike Görres (1951), eine jüngere Zeitgenossin Getrud von le Forts. Der Roman erzählt die Gründung und den Aufstieg des Adelsgeschlechts der Witigonen, der legendären Vorfahren der mächtigen Rosenberger. Die Geschichte beginnt 1138 mit dem Ritt des Ritters Witiko von Passau über Hautzenberg nach Böhmen, in seine Väterheimat. Nach der Erhebung eines Teils der böhmischen Herren gegen Herzog Wladislaw II. bringt Witiko dessen Verbündeten, den Bischof Zdik von Olmütz, unerkannt zum Bischof von Passau in Sicherheit und betritt so abermals den Boden der Stadt.
Eine die Gertrud von le Fort-Forschung sehr bereichernde Perspektive entwickelte Christoph Fackelmann (Wien) mit dem die Zuhörer zunächst überraschenden Thema über Kunst, Kirche und Gertud von le Forts Hymnen, betrachtet durch die Brille von Karl Kraus. Fackelmann geht von der Notwendigkeit einer Ergänzung der bisherigen Rezeption der Hymnen aus, die bisher von dem Konsens getragen gewesen sei, den Text einsinnig als „bekenntnishaften Ausdruck der sich vollziehenden Konversion der Urheberin“ zu lesen. Er verwies auf die im Vortrag von Gundula Harand schon genannte Dissertation von Maria Eschbach, die herausgearbeitet hatte, wie der Zyklus allen diesen Voraussetzungen zum Trotz dennoch als Werk der Kunst verstanden werden müsse und wie sogar ein besonderes Ordo-Bewußtsein im Formalen walte. Beide Dimensionen, die religiös inspirierte und die gestalterische, hängen für Eschbach eng zusammen und durchdringen einander. Sie spreche ausdrücklich vom Antagonismus beider Prinzipien und scheue sich nicht, eine Diagnose dieser Spannungen zu stellen. Sie sehe in le Forts Hymnen Versuche, einem exzessiven Ausdrucks- und Bekenntniswillen eine „zentripetale Bändigung aufzuzwingen“.
Überraschend dabei sei, daß sie diesen Ansatz dem Austausch mit dem Wiener Literaturkritiker Leopold Liegler, dem Privatsekretär und Biographen von Karl Kraus, verdanke. Die detaillierten Studien über le Forts Hymnen, die sich in Lieglers Nachlaß erhalten haben, legen die in lebenslanger Auseinandersetzung mit Kraus’ Sprachdenken gewonnenen Kriterien an le Forts Hymnen an und lesen diese als spracharchitektonisches Meisterwerk. Lieglers Prinzipien und Beobachtungsweisen folgend, seine Detailergebnisse weitgehend übernehmend, deute Maria Eschbach die Hymnen in ihrer formalen Beschaffenheit und ihren gestalterischen Dimensionen als das poetische Äquivalent zum Bau einer Kathedrale. Sie entwürfen in der Sprachkunst ein Inbild der Kirche selbst.
Das Material des literarischen Künstlers sei die Sprache, laute einer der zentralen poetologischen Maximen bei Karl Kraus. Der literarische Künstler schaffe, indem er Sprache gestalte. Was wir also, so Fackelmann resümierend, eine wirkungsgeschichtliche Überschneidung der einander doch geistesgeschichtlich und weltanschaulich wirklich fremden Linien nennen könnten – von Gertrud von le Fort einerseits, von Karl Kraus andererseits – und was wir daran feststellen könnten, das resultiere ganz wesentlich aus diesem Punkt in der Poetologie. Fackelmann betonte abschließend, hier scheine ihm die Berührung jener beiden wirkungsgeschichtlichen Sphären doch äußerst fruchtbar und anregend.
In der ideologiekritischen Tradition der siebziger Jahre und im Geist befreiungstheologischer und sozialkritischer Hermeneutiken begann Andreas Matena (Augsburg) seinen programmatischen Vortrag Gott neu denken. Anstöße im Werk von Gertrud von le Fort mit der explizit provokativen Forderung, die bisherige Rezeption von Leben und Werk der Dichterin radikal zu hinterfragen. Daß die Dichterin nur noch von solchen Katholiken gelesen werde, die sich einen vorkonziliaren, antimodernistischen Katholizismus zurückwünschen, daß ihr Werk mittlerweile zum alten Eisen gehöre und nicht einmal mehr für den Wertstoffhof tauge, führte der Referent auf die Kanalisierung der Rezeption schon zu Lebzeiten der Dichterin und damit einhergehende Vereinnahmungen wie Vereinseitigungen sowie auf einen hohen Grad an Selbststilisierung le Forts zurück. In einer bewußten Hermeneutik des Verdachts wurden die Zuhörer mit einer Reihe zweideutiger, die Dichterin scheinbar kompromittierender Beispiele konfrontiert, die das Bild einer schillernden Persönlichkeit zu zeichnen suchten. Programmatisch fordert Matena eine kritische Kontextualisierung und Historisierung jenseits der Wege der bisherigen Rezeption und eine Spurensuche, die auf in die Zukunft weisende Aspekte zielt.
In einem zweiten Schritt versuchte Matena am Beispiel der 1954 erschienenen Novelle Am Tor des Himmels „die diversen Einflüsse von Theologie, Philosophie und Literatur aufzudecken, die sich aus dem Leben der Dichterin ergeben mögen“. Dabei ging es ihm nach eigenen Worten vor allem darum nachzuweisen, wie nicht nur vielfältig, sondern eklektisch die philosophischen, historischen, theologischen und literarischen Einflüsse auf das Werk der Dichterin seien. In einem rein assoziativen und hypothetischen Verfahren suchte er Textpassagen aus der Novelle mit Aussagen von Schriftstellern, Theologen und Philosophen zu korrelieren: Die Namenliste reichte von Karl Jaspers, Oswald Spengler, Friedrich Gogarten, Albert Camus, Friedrich Feuerbach, André Gide, Immanuel Kant als Vollender Luthers, Ernst Troeltsch, Erich Przywara, Bert Brecht, Hugo Ball bis zu Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle, aber auch Sätze aus dem Ersten Vatikanum (Dei Filius), wo es um das Verhältnis von Vernunft und Wahrheit geht, kamen zur Sprache. In zahlreichen schlaglichtartigen Vergleichen und hypothetischen Rückschlüssen kam Matena zu dem Schluß, daß das Menschen- und Gottesbild der Dichterin auch heute noch höchst vielfältig und radikal erscheine. Alle Bilder von Gott seien zernichtet, durchkreuzt im wahrsten Sinne des Wortes. Gott als Handelnder tauche strenggenommen in ihrem Werk gar nicht auf. Der Ostersonntag scheine in den Werken der le Fort eigentlich nicht existent zu sein, auch nicht in Am Tor des Himmels. Darin zeigten sich dem Referenten Anstöße zu einem neuen Gottesbild „jenseits aller Kausalität“, jenseits eines „lieben Gottes, der das Wetter macht“. Es scheine im Werk der le Fort nicht viel übrig zu sein von der Kausalität eines Gottes, der auf den Karfreitag automatisch und kausal selbstverständlich den Ostersonntag folgen lasse.
Es war ein insgesamt stark polarisierender Vortrag, der, wenn auch mit einem großen hermeneutischen Sendungsbewußtsein vorgetragen, die kritische Frage nach den dem Vortrag zugrundeliegenden Wertungskriterien nicht erläßt. Auch muß die Frage erlaubt sein, ob Literatur nicht mehr ist als ein Appendix der jeweiligen Moden des Zeitgeistes. Erschöpft sich ein poetisches Werk tatsächlich lediglich in der Rekonstruktion historischer Kontexte und zeitgenössischer Diskurse?
Dem Doppelroman Das Schweißtuch der Veronika (1928/46) wandte sich die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Erlangen) zu, die Tagung mit einem weit ausholenden Vortrag zum Thema Ordnung oder Barmherzigkeit? Zu einer schwierigen Balance bei Gertrud von le Fort beendend. Der Frage nach Ordnung oder Barmherzigkeit gehe eine weitaus schärfere voraus, nämlich die nach dem Verhältnis von Ordnung und Liebe. Schließen beide einander aus? Ist, wer liebt, immer schon gerechtfertigt? Diese These erhalte heute fast keinen Widerspruch mehr. Die neue Situation – Wollust, Pseudos der Liebe – erfahre eine enorme Aufwertung. Gerl-Falkovitz erinnerte an den von Augustinus stammenden Satz: „Ama et fac quod vis“ („Liebe und tu, was du willst“), der wie ein Paukenschlag durch die Jahrhunderte halle. In diesem Terrain zwischen Ordnung und Liebe bewege sich auch le Fort mit ihrem Roman, in dem es um die Geschichte einer großen, verzehrenden Liebe gehe, die immer mehr in den Strudel des fast Unbestehbaren gerate und sich zuletzt anscheinend zu der Kirche und deren Ordnung in Widerspruch setze.
Veronikas Entscheidung für die Liebe zu Enzio wurde in der Rezeption lange angegriffen. Auch der Versuch einer Wiedergutmachung durch die Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde in München 1956 enthebe jedoch nicht der Frage, ob einzelne wie Veronika sich über die Ordnung der Kirche hinwegsetzen könnten. Das neue Credo der Kirche sei heute, auch Gott sei barmherzig, die Hölle sei leer. Ist Liebe immer schon ihre eigene Rechtfertigung? Bleibe diese Frage unbeantwortet, komme es zu jenen Überhöhungen, wie wir sie gegenwärtig besonders in Deutschland erlebten.
Mit Romano Guardini hielt Gerl-Falkovitz dagegen, Bezugspunkt aller Dynamiken, auch der des Liebens, sei die Wahrheit. In einem Kapitel seines Erstlings Vom Geist der Liturgie, das die Überschrift trägt: Primat des Logos vor dem Ethos, schreibt Guardini: „Lieben und Wollen sind an eine primäre Ordnung gebunden, nämlich die Wahrheit.“ Wird nicht, wenn behauptet wird, auch die gleichgeschlechtliche Liebe sei eine Gabe Gottes, im Vorfeld schon nicht mehr bedacht, daß uns die Ordnung der Liebe auch auf den Leib geschrieben ist? „Wir brauchen Leidenschaft und Fülle, das wäre dann der Eros. Wir brauchen auch Maß und Gleichgewicht. Das ist die Gegengewichtung. Und wenn Maß und Gleichgewicht fehlen, dann wird Leidenschaft und Fülle dieses dämonische Entgleiten, vor dem die Griechen Angst haben“, stellte Gerl-Falkovitz fest.
In den Hymnen habe le Fort in der Fülle der aufsteigenden Bilder durch klare Struktur dem Ganzen eine Fassung gegeben. Veronika komme nur ganz knapp mit dem Leben davon. Welche Brandmale sie mitnehme, lasse der Roman offen. Die Dichterin habe offenbar eine Fortsetzung geplant. Le Fort erkenne in der Nächtigkeit ihrer eigenen Zeit das Zersplittern aller Hoffnung, die Zerstörung des Gottesbildes selbst, den Untergang aller Ordnungen. Welches Fazit sei aus diesen Abstürzen zu ziehen? Was ist die Wahrheit der Liebe? Gerl-Falkovitz schloß mit zwei provokanten Zitaten: Dante spreche von einer Liebe, die dem Geliebten das Wiederlieben nicht erlasse. Liebe ist nicht barmherzig! Und ein Satz des französischen Mystikers Jean Baptiste Lacordaire laute: „Glaubt mir, meine Brüder, nicht die Gerechtigkeit ist ohne Erbarmen, aber die Liebe ist ohne Erbarmen." Denn Liebe will wiedergeliebt werden, und sie besteht darauf.
Die nächste Jahrestagung der Gertrud von le Fort-Gesellschaft wird vom 5. bis 7. September 2025 wiederum im Exerzitien- und Bildungshaus auf Mariahilf in Passau stattfinden. Gäste sind wie immer herzlich willkommen (https://gertrud-von-le-fort-gesellschaft.de).
Abbildung: Eine Seite aus Gertrud von le Forts Hymnen an die Kirche, erweiterte Fassung, Volksausgabe des Verlags Kösel-Pustet, München 1929.