Die Kälte des Großinquisitors – eine Rezension zu Helmut Lethens neuem Buch

LOGBUCH XLVII (22. Mai 2023). Von Beate Broßmann

Bis ich eine Vorstellung davon gewonnen hatte, worum es in diesem Buch eigentlich geht, habe ich eine ganze Weile gebraucht. Der Untertitel Über die Faszination des Bösen weckt Erwartungen, die zu erfüllen der Autor offenbar gar nicht vorhatte. Die Protagonisten des Literaturwissenschaftlers heißen unter anderem: Carl Schmitt, Wladimir Solowjew, Wassilij Rosanow, Arthur Koestler, Thomas Mann, Albert Camus und Marcel Proust. Es erweist sich schon bald, daß die liebevollen und geistreichen Portraits von Büchern und ihren Autoren schwerlich auf einen Nenner zu bringen sind, schon gar nicht auf den Begriff des „Bösen“. Dem Anspruch, den „Kult des Bösen in den historischen Avantgarden und die französischen ‚Salonnihilisten‘ bis in unsere Gegenwart“ darzustellen, wie es der Klappentext verspricht, wird das Werk nicht gerecht. „Das Böse“ bleibt marginal.

Lethen war von der Parabel vom Großinquisitor in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow (1878–1880) nach eigenem Bekunden derart fasziniert, daß er akribisch Literatur sammelte, die die besagte Legende interpretiert. Lethen verfolgt zeit seines Lebens das Ziel, der Entzauberung der Welt, wie sie von Max Weber diagnostiziert worden ist, in all ihren Facetten auf den Grund zu gehen und ihre Dunkelkammern, die sich ihm als gesellschaftliche Kältepole darstellen, auszuleuchten.  Im Besonderen arbeitete er daran, den „Kältekult“ der deutschen Avantgarde in den 1920er Jahren zu analysieren. Wer sich für eine solche Sicht der Dinge interessiert, sollte sich allerdings die „Klassiker“ Lethens vornehmen, besonders die Verhaltenslehren der Kälte von 1994.

Im Sommer des Großinquisitors verfolgt Lethen das Nachleben der Dostojewskijschen Parabel in Denken und Literatur des 20. Jahrhunderts und setzt seine Kälte-Metapher damit in einen neuen Bezugsrahmen. Er erkennt den Zusammenstoß von Kälte und Wärme im Verhältnis zwischen Dostojewskijs Großinquisitor und dem auf die Erde zurückgekommenen Jesus.

In der Legende vom Großinquisitor schildert Dostojewskij die kurze Zeit einer unerwarteten Rückkehr Jesu in das Sevilla des 16. Jahrhunderts. Man kann die Binnenerzählung aus dem Roman hier nachlesen. In dem Großinquisitor und Jesus sieht Lethen zunächst Personifizierungen des Bösen und des Guten. Aber – und hier beginnt das kritische Fährtenlesen des Autors – so einfach ist es nicht. Die Zurechnung kann auch von Fall zu Fall umgekehrt sein, denn wir haben es mit einer Ambivalenz zu tun: Christliche Moral und Freiheit überfordern den Menschen. Nur „die Starken seien in der Lage, den extremen Tugendanforderungen, die Jesus stellt, zu genügen“, zitiert Lethen den russischen Philosophen Wassilij Rosanow. Die menschliche Natur ist nach dessen Überzeugung verdorben, und die Menschen könnten der Dialektik des Bösen nicht entkommen. Sie hätten sich vom imperialen Universalismus der katholischen Kirche einspannen lassen. Der Westen kenne nur einen fordernden Gott. Lediglich in den Klöstern der orthodoxen Kirche walte noch der Geist des Mitleids und der grenzenlosen Duldung. Nur in Rußland und in armen Gebieten der Erde halte man noch an dem gütigen, lieben Gott fest.

Die Gläubigen möchten dem Großinquisitor zufolge nicht frei sein, sondern einer Autorität gehorchen. Und sie wollen ihre Schwächen und Fehler nicht als Sünden (ab-)qualifiziert wissen. Für Max Weber ist der Gottessohn ein Vertreter der Hypermoral. Lethen stellt Webers Position wie folgt dar: Jesus, andere „Gesinnungsethiker“ und radikal gestimmte Intellektuelle litten an Hybris und richteten eine Menge Schaden an. Sie trügen nur dafür Sorge, daß die „Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt“ und gäben sich einer „ins Leere laufenden Romantik“ hin. Sie ertrügen „die ethische Irrationalität der Welt“ nicht, seien uneinsichtig und damit in der Politik ein gefährlicher Menschentyp. Dabei ahnten sie nicht, „daß ihre Herrschaft, wenn es je dazu käme, fatale Ähnlichkeit mit einer Militärdiktatur aufweisen würde.“ Im Großinquisitor hingegen sieht Weber den „Verantwortungsethiker“: Dieser rechne mit den Defekten des Menschen und wisse, daß er es in der Politik mit diabolischen Mächten zu tun hat, die in jeder (Staats-)Gewalt lauerten. Der „Verantwortungsethiker“ werde nie die „ethische Paradoxie“ los, daß nur mit teuflischen Mitteln – Macht und Gewalt – eine passable Demokratie zu erreichen sei.

Durch das Kalte hin zum Warmen? Krieg führen für den Frieden? Nicht ganz, denn im Grunde zählt die Staatsform „Demokratie“ ebenfalls zur Sphäre des Kalten, weil sie Sachlichkeit, Nüchternheit, ja Pragmatismus und kühle Köpfe benötigt – „kalte personae“, wie Lethen schreibt. Demokratie dürfe nicht romantisch oder „gesinnungsethisch“ gedacht werden.

Eine Ethik der Güte sei weder milde noch raffiniert. „Güte ist Besessenheit“, formuliert Weber apodiktisch. Sie sei „wild, grausam, blind und abenteuerlich“. Und ihre Adepten kümmerten sich nicht um ihre Folgen. Die „schlechthin wahllose Güte“ führe zu „mystischer Weltflucht in Gestalt objektlos liebender Hingabe“. In seinem großen Werk Wirtschaft und Gesellschaft nimmt Weber das Thema noch einmal auf, wenn er vom „prinzipiellen Scheitern der Brüderlichkeitspostulate an der lieblosen Realität der ökonomischen Welt“ spricht. Er setzt dagegen auf den Habitus der Sachlichkeit, die „geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein“. Nur so könne dem „stählernen Gehäuse“ wirkungsvoll begegnet werden. Gesinnungsethik hingegen birgt für Weber die Gefahr chiliastischer Prophetie: Die „Akteure, die soeben noch Liebe gegen Gewalt auf ihre Fahnen geschrieben hatten“, riefen nun selbst zu Gewalt auf, „um letzten Endes eine Herrschaft totaler Gewaltlosigkeit zu errichten.“ Aktueller kann ein historischer Text kaum sein.

Weber und die anderen Protagonisten in Lethens Buch eint, daß sie sich mit der „Entfremdungskälte“ der modernen Gesellschaften beschäftigen, also mit dem Spagat zwischen Authentizität und Künstlichkeit, Wärme und Kälte, Nähe und Distanz, Innen und Außen, Härte und Weichheit, Gut und Böse, Freund und Feind. All diese Konstellationen korrelieren mit dem Verhältnis von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, dessen sich Helmuth Plessner – Ferdinand Tönnies würdigend – angenommen hat. Demokratische Strukturen sind nach Plessners Überzeugung auf die Ausbalancierung eines stabilen, aber beweglichen Gleichgewichts angewiesen – also auch dem von Nähe und Distanz. Für die gesellschaftliche Rolle des Individuums seien zivilisiertes Verhalten, also Ritterlichkeit, Würde, sportliche Fairness und Redlichkeit unabdingbar. Daneben aber auch rein bürgerliche Verhaltensweisen: Takt, Diskretion, Anstand, das Achten von Normen, Sitten und Gebräuchen. Bürgerliche Gesellschaftlichkeit bedarf auch der Maskerade.

Lethen regt an zu eigenen Überlegungen: Während gesellschaftliches Auftreten zu Distanz neigt, liegt der Gemeinschaftlichkeit tendenziell ein Symbiosebedürfnis zugrunde, ein Wunsch nach dem Aufgeben der Selbstbestimmung. Auch Intimität kann tyrannisch sein, wie wir bei Richard Sennett gelernt haben. Aber Im Laufe der Zivilisation ist im Abendland der Staat im Verhältnis zur Gemeinschaft immer stärker geworden. Er hat sich zahlreiche Kompetenzen der Gemeinschaft(en) angeeignet: Bürgerwehr und bewaffneter Selbstschutz sind verboten, jegliches bürgerliches Handeln steht unter bürokratischer Kontrolle und Genehmigungszwang, Geschichtsbild und Sprache werden dekretiert und zensiert usw. Mit der gesteigerten Verrechtlichung von Beziehungen und Verhaltensweisen reduziert sich permanent die Freiheit des Individuums und somit dasjenige in seinem Leben, das er noch selbst entscheiden kann. Die heutigen „Kids“ verweigern in gewissem Umfang die Akzeptanz des klassischen bürgerlichen Rollenspieles zwischen Bourgeois und Citoyen. Sie kreieren auf der Basis von Authentizität neue Rollen, die ihren Eltern fremd und unheimlich sind. Finden die bürgerlichen Freiheiten keine allgemeine, selbstverständliche Anerkennung mehr, so löst sich eine Gesellschaft auf in ihre Bestandteile, in ein Nebeneinander von Gemeinschaften, Gruppen, Parallelgesellschaften, Milieus und informellen Zusammenschlüssen, die potenziell ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung mit antizivilisatorischen Methoden befriedigen. Indizien dieses laufenden Prozesses sind die Formlosigkeit des Auftretens, das narzißtische Ausstellen des Privatlebens, dessen Übereignung an die Gesellschaft und ihre Machtinstrumente. Authentizität ist ein Wert geworden, unter dessen Flagge gute Manieren als konventionelles Verhalten abgelehnt werden.

Heute sind es die politischen „Romantiker“, die die Bürger erziehen wollen und mit unnötigem Druck überfordern. Und es sind die „Gutmenschen“, die für Chaos und Regellosigkeit sorgen, indem sie meinen, das offenbare, evidente Gute könne, dürfe, ja müsse sich über jedwede gesellschaftliche Regel im Ernstfall hinweg- und jede Konvention außer Kraft setzen. Sie wollen mit Hypermoral die Welt aus den Angeln heben, und nicht die Vernünftigen, die Abwägenden, die Maßhalter, die sensibel sind für Rigorismen, für Polarisierung und Fundamentalismen. Die Euphorie extremistischen Denkens führt immer zu Disruption und Totalitarismus. Verkehrte Welt, wenn die Idealisten heute am Kältepol situiert werden müssen. Der neoliberale Markt, der alles zur Ware macht, und die Digitalisierung, die alles Private ins Öffentliche überführt, tun das Ihre, um die Gemeinschaftlichkeit zurückzudrängen oder ganz abzuschaffen.

Man sieht: Es steckt viel Gegenwart und viel inspirierendes Gedankengut in Helmut Lethens Buch über den Großinquisitor. Dieser Schatz will gehoben werden.

Helmut Lethen: Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen. Berlin: Rowohlt 2022. 240 S. 24 €.

 

Abbildung: Porträt des Kardinalinquisitors Don Fernando Niño de Guevara (um 1600) von El Greco (Wikimedia Commons)

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