Der Kampf zwischen dem Hahn und der Schildkröte – Betrachtungen bei einem Besuch im Dom von Aquileia

LOGBUCH LIX (24. April 2024). Von Lothar C. Rilinger


Auf einer Brücke über den Mosaiken gingen wir weiter, vorbei an den Fundamenten des Campanile, fast bis an das Ende des Ganges zum Ostjoch der theodorianischen Aula, und dort trafen wir auf das Mosaik, das in seiner Einzigartigkeit untrennbar mit der Geschichte des wachsenden Christentums im Römischen Reich verbunden ist. Es wurde im Rahmen der Ausgrabungen 1893 gefunden und stellt eine Szene dar, die nur noch ein Pendant aufweist: ein Mosaik im Hauptschiff der Basilika. Wir können auf diesem Mosaikbild einen Hahn und eine Schildkröte entdecken, die sich gegenseitig mustern. Im Hintergrund ist eine Säule zu sehen, auf der eine Vase steht. Es ist eine Kampfszene zwischen diesen beiden Tieren, und dem Sieger winkt die Vase als Trophäe seines Sieges. Die Szene ist merkwürdig. Hahn und Schildkröte kämpfen nicht miteinander, da die Schildkröte durch den Panzer vor Angriffen geschützt ist und auch viel zu unbeweglich wäre, um einen echten Kampf austragen zu können. Die Szene ist also nicht nach der Wirklichkeit komponiert, sondern soll der Nachwelt eine religiöse Aussage überliefern. Und damit führt uns dieses Mosaik tief in die mythologische Geschichte des Christentums.

Die Schildkröte wurde auf Grund ihrer zahlreichen Nachkommenschaft als ein Fruchtbarkeitssymbol angesehen und wegen der langen Lebensdauer zugleich als Symbol für Gesundheit, Vitalität, ja Unsterblichkeit. Allerdings wurden diesem Tier auch dämonische Kräfte nachgesagt. Gerade dieses dämonische Element ließ ihr in der christlichen Mythologie eine negative Konnotation zukommen. Sie wird als Sinnbild der Dunkelheit angesehen und damit auch der Hölle und des Teufels. Hierfür spricht auch die Verwandtschaft der italienischen Wörter für Schildkröte und für Unterwelt: „tartaruga“ und „tartarus“. Schon im Mithraskult stand die Schildkröte für die Finsternis und damit für das Reich der Verderbnis. Im Gegensatz hierzu wird der Hahn mit dem Licht in Verbindung gebracht. Bereits in vorchristlicher Zeit galt er als Symbol der Kampfeslust und wurde in der christlichen Mythologie als Künder Gottes angesehen. Er kräht unmittelbar vor Sonnenaufgang und zeigt damit aller Welt an, daß ein neuer Tag beginnt, ja, daß generell ein Neuanfang bevorsteht. Diese Ankündigung wird in der christlichen Mythologie umgedeutet als eine der Erlösung durch Gott und damit als Ankündigung jenes Zeitalters, das als Endpunkt der menschlichen Entwicklung anzusehen ist. In Jesus Christus ist derjenige in die Welt getreten, der alle Menschen zu Gott führen wird. Der Hahn verkörpert also metaphorisch das aufstrebende Christentum.

Auf dem Mosaik ist die Schildkröte links abgebildet. Sie ist im Verhältnis zum Hahn viel kleiner. Sie scheint sich zu ducken und zum Hahn aufzublicken. Der Betrachter meint zu erkennen, daß sie ein wenig verhalten zum Hahn hinaufschaut. Dieser hingegen blickt auf seinen Kontrahenten hinab, siegesgewiß und triumphierend. Seine beiden Beine sind so dargestellt, als habe er gerade einen Ausfallschritt vorgenommen, um dem Kopf der Schildkröte ganz nahe zu kommen und mit dem Schnabel auf das Haupt zu picken. Die aggressive Kampfeslust des Hahnes ist deutlich zu erkennen, allein auf Sieg ausgerichtet. Der Mosaizist hat den Hahn in seiner ganzen Pracht komponiert, während die Schildkröte eher unscheinbar, aber auch unterwürfig modelliert ist. Damit wollte der Mosaizist offenbar ausdrücken, daß das Christentum nicht nur das Licht in die Welt leuchten läßt, sondern auch, daß das, was es mit sich bringt, schlicht und ergreifend schön ist: Es ist die Schönheit des Glaubens. Ihm, dem Hahn, winkt die Siegestrophäe, er wird die Schildkröte besiegen und auf diese Weise über die Dunkelheit des Heidentums triumphieren. Er wird das Licht in die Welt tragen und den Sieg Jesu Christi über die Welt und ihre von Menschen geschaffenen alten Götter.

Dieses Mosaik kündet somit vom Sieg des Herrn des Kosmos. Es scheint in seiner Art und Anlage geradezu die Entwicklung, die die Welt zur Ewigkeit führen will, besiegeln zu wollen, manifest zu machen. Als das Kunstwerk geschaffen wurde, war das Christentum noch nicht durch Kaiser Konstantin zur Staatsreligion im Römischen Reich erkoren worden, und doch hat der Mosaizist weitsichtig erkannt, daß nur das Christentum die Macht haben könne, über das Heidentum und über die Welt der von Menschen gemachten Götter zu siegen – daß nur Jesus Christus über die Kraft verfüge, der Welt das Heil zu bringen. Es war wie eine Prophetie, die dann auch Wirklichkeit werden sollte. Im Namen Jesu Christi erlebte die Entwicklung der Welt einen Aufschwung, der darin gipfelte, daß das christliche Moment das weltliche durchdrang und beide eine Symbiose eingingen, die es ermöglichte, nicht nur im Spirituellen zu wirken, sondern auch im Weltlichen. So konnte sich unser heutiges Wertesystem aus dem Dekalog entwickeln.

Obwohl das Christentum so viel Gutes über die Menschen gebracht hat, erfährt es – gerade im Westen – spürbar immer weniger Anerkennung. Die Kirchenaustritte belegen diese Entwicklung, die sich auch als Abkehr von dem im Christentum begründeten Wertesystem entpuppt. Nicht mehr dieses soll gelten, sondern ein System, das sich die Menschen selbst schaffen.

Dies führt uns zwangsläufig zu der Frage, ob der Hahn tatsächlich endgültig über die Schildkröte gesiegt hat oder ob es vielleicht doch nur ein Pyrrhussieg gewesen ist, kein endgültiger. Aus diesem Zweifel ergibt sich eine entscheidende Aufgabe, die jedem Christen übertragen ist: Die Aufgabe, für das Christentum zu kämpfen, für die christliche Ethik und ebenso für den christlichen Glauben. Der Christ sollte sich nicht in Sicherheit wiegen, daß andere es schon richten. Das ist eine viel zu bequeme Vorstellung. Jesus Christus hat vielmehr uns allen aufgegeben, für seine Ideen zu kämpfen, für sie einzutreten und sie zu verteidigen: „Geht hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur!“ (Mk 16,15) Dies ist der Auftrag, der uns übertragen wurde. Er bedeutet nichts weniger als die Mission, die eben nicht nur den geistlichen Missionaren auferlegt ist, nein, der Gedanke der Mission soll jedem Menschen, jedem Gläubigen, zur Grundlage seiner religiösen Einstellung und seines Verhaltens dienen. Jeder soll missionieren und folglich für das Christentum kämpfen.

 

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Buch von Lothar C. Rilinger: Auf der Suche nach dem Licht. Zeichen des Glaubens auf dem Weg von Aquileia nach Rom (ISBN 978-3-942605-33-5). Das Buch erscheint demnächst im Lepanto-Verlag. Vorbestellungen sind unter info@lepanto-verlag.de bereits möglich.

 

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Abbildung: Fußbodenmosaik im Dom von Aquileia, Aula Teodoriana (Foto: Mosaico ad Aquileia, Wikimedia commons/Alessandro Gigliotti)

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