LOGBUCH LXXXII (4. Dezember 2025). Von Daniel Zöllner
Wenn ein Autor, der sich selbst als „Engelforscher“ versteht, eine Rilke-Biographie schreibt, dann ist ein Werk zu erwarten, das die Konventionen des Genres sprengt. Denn die Engel sind nun einmal Wesen, die das Menschliche und Irdische sprengen und übersteigen. Und tatsächlich ist mit Tausend Nächte tief ein Buch entstanden, das zwar nicht den Anspruch einer „vollständigen“ Biographie und Werkinterpretation erheben kann, sich dafür aber in erhellender Weise dem Unsagbaren nähert, das für Rilke in Leben und Dichten die Engel verkörperten. Uwe Wolff erschließt die Engel als das Lebensthema Rilkes, von dessen Kindheit bis zu seinem leidvollen Sterben, vom Frühwerk bis zu den Duineser Elegien.
„Vieles ist zu zart um gedacht, noch mehres um besprochen zu werden“, schreibt Novalis in der Aphorismensammlung „Blüthenstaub“, und es gilt nicht zuletzt für die Engel: Deren Dasein ist von solch zarter Art, daß es sich dem verdinglichenden Zugriff entzieht. „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, bekennt Rilke in einem sehr frühen Gedicht – vielleicht auch deshalb, weil das verdinglichende Wort das Singen der Engel zum Schweigen bringt. Dementsprechend hat Wolff eine verknappte Prosa gefunden, die sich in meist kurzen Sätzen andeutend zart dem Unsagbaren anschmiegt, statt es zu zerreden.
Im Titel seiner Biographie zitiert Wolff aus „Der Schutzengel“, einem Gedicht des frühen Rilke. Darin lauten die ersten Verse:
„Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.“
Wüßte der Dichter den Namen des Schutzengels, so könnte er über diesen verfügen. Doch über Engel läßt sich nicht verfügen. Sie entziehen sich durch ihre Ungreifbarkeit, ihre Höhe und ihre Tiefe. Das wußte bereits der frühe Rilke, und auch die Duineser Elegien (1923) sind durchdrungen von diesem Bewußtsein – wenn es etwa sowohl in der ersten als auch zu Beginn der zweiten Elegie heißt: „Jeder Engel ist schrecklich.“ Die Engel sind faszinierend, aber zugleich erschreckend – ein mysterium fascinosum et tremendum, wie Rudolf Otto das Heilige charakterisiert hat.
Wolff bezeichnet Rilkes Elegien als „Engeldichtung“. In ihnen gelangt Rilkes Lebensthema zur reifsten Ausgestaltung, ja zur Vollendung. „Lebensthemen sucht sich niemand aus. Sie sind einfach da und mit der Geburt als Auftrag gegeben. Manchmal wirken sie still im Verborgenen, manchmal werden sie drängend und verlangen nach rascher Klärung. Sie wollen geleistet werden.“ Es ist bewegend, anhand von Wolffs Prosa zu verfolgen, wie Rilke seinem Lebensthema gerecht zu werden versucht, mit dem „Engel der Berufung“ ringt und schließlich mit den Duineser Elegien den Durchbruch erzielt. „Rilkes Elegien sind eine Art Requiem, das nach der Beschreibung des Verlustes der Engel in schrittweiser Heimholung zu ihnen zurückführt.“ Damit spiegeln sie auch ihren Entstehungsprozeß wider, der sich von den ersten Fragmenten bis zum vollendeten Zyklus über zehn Jahre hinweg erstreckt.
Wolff kennt die Literatur über Rilke, setzt aber auch eigene Akzente. Der Biograph ist sich bewußt, daß alle Zeugnisse über den Dichter und alle Erinnerungsberichte von Begegnungen mit ihm mit Vorsicht zu genießen sind. „Aber irgendetwas ist in den meisten Fällen doch wahr und wird zu einem Pixel im Gesamtbild.“ In vielen Fällen vermag Wolff ein schiefes Bild von Rilke zurechtzurücken, etwa wenn er dem Vorurteil vom pathetisch-ernsten Dichter ein Zeugnis von Rilkes großer Gönnerin und Freundin Nanny Wunderly-Volkart entgegenstellt: Rilke habe „hell, glockenklar und warm“ gelacht, in einer unvergeßlichen und manchmal geradezu ausgelassenen Weise. Seine Freunde hätten seinen Humor gekannt und geliebt. Auch das gängige Bild von Rilkes Mutter versucht Wolff zu korrigieren. Sophie Rilkes intensive katholische Frömmigkeit habe immer wieder Anlaß zum Vorwurf der Bigotterie gegeben. „Rilkes Biografen haben aus Unverständnis gegenüber dieser so fremd gewordenen religiösen Kultur die katholische Frömmigkeit seiner Mutter als bigott oder wunderlich abgetan. Deshalb konnten sie auch Rilkes Glauben an die Engel nicht ernst nehmen.“ Hier vermag Wolff als religiös hochmusikalischer Mensch und überzeugter Katholik Aspekte in Rilkes Dasein zu erkennen und darzustellen, die vielen anderen Biographen fremd und unverständlich bleiben mußten.
Das wird ebenfalls deutlich bei den kurzen, aber gehaltvollen Blicken, die Wolff auf die wichtigsten Werke Rilkes wirft. Bereits im frühen Stunden-Buch (1905 erschienen) werden die Engel gepriesen. Der Gedichtband Das Buch der Bilder (1906) enthält neben dem bereits zitierten Gedicht „Der Schutzengel“ noch weitere Engelgedichte. In den Neuen Gedichten (1907/08) findet man Gedichte, die Engel-Erlebnisse darstellen (etwa „Tröstung des Elia“), während in dem Gedicht „Der Ölbaum-Garten“ gerade das Ausbleiben des Engels, der Jesus tröstet, den originellen Aspekt bildet. Wie ein Präludium zu den Duineser Elegien erscheint Rilkes Gedichtzyklus Das Marien-Leben (1912), in dem die Engel eine große Rolle spielen – wie angesichts einer dichterischen Darstellung des Lebens der Muttergottes auch zu erwarten.
Wolff zeigt überdies auf, daß nicht nur im Werk Rilkes, sondern auch an biographisch entscheidenden Stellen die Gestalt der Engel auftaucht: In den Augen seiner Verlegerin Katharina Kippenberg erscheint Rilke als ein „engelhafter“ Mann. Der Dichter übersetzt gemeinsam mit seiner Gönnerin und Freundin, der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, die Göttliche Komödie Dantes, wo im „Paradiso“ die Chöre der Engel erklingen. Die Fürstin habe Rilke – halb scherzhaft – den Namen „Doctor Seraphicus“ (nach dem Engelschor der Seraphim) gegeben. An seine Geliebte Lou Albert-Lasard schreibt Rilke jene Worte, die Wolff seinem Buch als Motto vorangestellt hat: „Einzeln sind wir Engel nicht; zusammen bilden wir den Engel unsrer Liebe.“ Eine andere Geliebte Rilkes, die russische Dichterin Marina Zwetajewa, spürt, wie sie in einem Brief an Boris Pasternak bekennt, den toten Rilke als Engel hinter sich. Bei Rilkes Beisetzung glaubt Katharina Kippenberg beim Zerreißen der Wolken einen „riesigen Engel“ am Himmel zu erkennen.
Zweifellos kann man all das abtun als bloße Zufälle und bloße Metaphorik. Eine Zeit wie die unsere, der jedes Pathos fremd ist und die alles in das Säurebad des Zweifels wirft, kann wohl nicht anders, als das Geheimnis, das die Engel verkörpern, zu zerreden. Vermutlich hat sie gerade deshalb die Erinnerung Uwe Wolffs besonders nötig, wenn er schreibt: „Wer Geheimnisse erklären will, hat Rilkes Engel nicht verstanden und wird auch keinen Zugang zu ihnen finden. Das Geheimnis will, so wie es der Dichter durch seine Mutter kennengelernt hat, kniend bezeugt, angebetet und gepriesen sein.“
Abbildung: „Rilke in Moskau“ von Leonid Pasternak (1928)