Das Abendland und die »Ursprungsgeschichte des Bewußtseins«. Eine christliche Lektüre Erich Neumanns

 Logbuch XV (5. November 2020). Von Daniel Zöllner

 

Vor sechzig Jahren, am 5. November 1960, starb Erich Neumann in Tel Aviv. Sein Hauptwerk mit dem Titel Ursprungsgeschichte des Bewußtseins (erschienen 1949) kann von Christen mit Gewinn gelesen werden. Der Überblick über die Religionsgeschichte, den das Buch gewährt, schärft das Bewußtsein für das Eigene des christlichen Glaubens, aber auch für seine Integrationskraft und Universalität. Zugleich wird bei der Lektüre die Vorgeschichte des christlichen Abendlandes erkennbar. Es wird deutlich, daß unsere gegenwärtige Bewußtseinslage auf dem Grund tausendjähriger Entwicklungen ruht, daß dieser Untergrund weiterhin präsent ist und jederzeit eine Regression möglich ist. Allerdings erkennt Neumann nicht, daß es Jesus Christus ist, der das Abendland vom Mythos befreit und jene spezifische Bewußtseinslage, die das Endstadium einer langen Entwicklung ist, entscheidend beeinflußt hat. Neumann erkennt deshalb auch nicht, daß die seelische Regression des Abendlandes, die sich seit der Publikation der Ursprungsgeschichte verschärft hat, mit dem Verlust des Glaubens und mit dem möglichen (und zum Teil bereits wirklichen) Rückfall in ein neues Heidentum zusammenhängt.

Neumann zeichnet in seinem Hauptwerk nach, wie sich in der Geschichte der Menschheit nach und nach das Bewußtsein vom Unbewußten emanzipiert hat. Wegen dieses Grundgedankens ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Hauptwerk des Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser, dessen verwandter Versuch, der erste Teil von Ursprung und Gegenwart, im selben Jahr wie Neumanns Ursprungsgeschichte unter dem Titel Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung erschien. Um die Übereinstimmungen und Differenzen dieser beiden Bücher darzustellen, wäre viel Raum erforderlich; deshalb wird im Folgenden ausschließlich Neumanns Ansatz skizziert.

Zu Beginn der Entwicklung, in der Urgeschichte der Gattung, ist die menschliche Psyche undifferenziert; hierfür steht das Symbol des Uroboros, der Schlange, die den eigenen Schwanz verschlingt. Die seelische Situation des Menschen ist hier noch charakterisiert durch das Übergewicht des Unbewußten, das im Archetyp der Großen Mutter angeschaut und verehrt wird. Dieser Archetyp ist überwältigend in seiner Vieldeutigkeit: „So ist die Große Mutter uroborisch; furchtbar und verschlingend und gleichzeitig gut, gebärend; helfend, aber auch verführend-zerstörend; faszinierend-verwirrend und weisheitsbringend; Tier und Gottheit, verführende Hure und unberührbare Jungfrau, uralt und ewig jung“ (345). Die Einheit von faszinierenden und erschreckenden Aspekten, die nach Rudolf Otto das Numinose charakterisiert, kennzeichnet auch die Archetypen und besonders den Mutterarchetyp.

Die „uroborische“, verwirrende und faszinierende Einheit der Psyche tritt im Laufe der Entwicklung auseinander in die Polarität von Unbewußtem und Bewußtsein. Es bilden sich darüber hinaus die Gegensätze von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt. Auch der ursprüngliche Hermaphroditismus der Psyche weicht der Gegensatzspannung von Männlichem und Weiblichem. Das Ganze der Psyche fächert sich auf in eine Vielzahl von Archetypen und den entsprechenden Symbolen. Einige dieser Archetypen werden vom Menschen nach außen projiziert und als Götter verehrt. Bereits der sogenannte Polytheismus ist somit ein Anzeichen einer ersten Emanzipation des Bewußtseins vom undifferenziert Einen des Unbewußten.

Im Laufe der Geschichte werden die Götter vermenschlicht und verlieren dadurch immer mehr ihren tierischen, fremd-faszinierenden und überwältigenden Charakter. Neumann beschreibt weiter, wie dann die Götter als Projektionen des Unbewußten vom Bewußtsein erkannt und in die Psyche zurückgenommen werden. Den Projektionscharakter der Göttergestalten hat bereits der griechische Philosoph Xenophanes von Kolophon um 550 v. Chr. durchschaut. Parallel zur Entwicklung in der griechischen Antike wird im Judentum die Verehrung der Götter als Götzendienst verworfen. Beide Entwicklungen lassen sich mit Rudolf Otto als Formen der Rationalisierung des Numinosen verstehen. Dabei verschwindet der erschreckend-faszinierende Charakter des Heiligen und seiner Symbole nicht, wird jedoch erträglich und beherrschbar durch das Bewußtsein, das nicht länger von ihm überwältigt wird.

Im Rahmen des Mythos ist es nach Erich Neumann der Held, der den entscheidenden Schritt vom Unbewußten zum Bewußtsein geht. Er besiegt die verschlingend-zerstörerische Seite des Unbewußten in Gestalt eines Monsters (etwa eines Drachen) und befreit die helfende, gebärende Seite des Unbewußten in Gestalt der Jungfrau. Während in der Frühgeschichte nur einzelne große Menschen zu Helden wurden und sich aus der Umklammerung des Unbewußten lösen konnten, ist dies in unserer Kultur die Aufgabe eines jeden Menschen. In heidnischen Kulturen war nur der Herrscher „Ebenbild Gottes“ und somit zur Heldentat der Bewußtwerdung berufen; für Juden und Christen trifft dies auf jeden Menschen zu, worauf auch Neumann hinweist (vgl. 458). Jeder Europäer muß sich im Laufe der Kindheit und besonders in der Pubertät aus der Umklammerung des Unbewußten und vom Mutterarchetyp lösen, um erwachsen und reif für die Beziehung zum anderen Geschlecht zu werden. Die geschlechtliche Liebe als Gegensatzspannung gleichwertiger Partner, als Polarität von Mann und Frau, von Ich und Du kennt nur das Abendland, wo sie Ausdruck in nahezu allen bedeutenden Kunstwerken fand. Sie fußt nach Neumann auf der herausgehobenen Bedeutung des Heldenarchetyps in unserem Kulturkreis.

Der Held ist nach Neumann „das Licht, Form und Ordnung Bringende gegenüber dem Chaos der urmütterlichen Fülle und der Monstrosität der Natur“ (178). An einigen Stellen seiner „Ursprungsgeschichte“ reiht Neumann Jesus Christus unter die großen Heldengestalten des Mythos ein, etwa wenn er ihn als Lichtbringer und Überwinder der Dunkelheit, als sol invictus charakterisiert (vgl. 178), oder wenn er schreibt: „Die Einsamkeit des Prometheus am Felsen und des Christus am Kreuz ist das Opfer dafür, daß sie den Menschen das Feuer und die Erlösung gebracht haben.“ (403) Dabei verkennt Neumann, daß Christus nicht einfach als einer der zahlreichen mythischen Helden und Heilsbringer verstanden werden kann. Christus ist vielmehr eine historische Gestalt, und er tritt mit dem Anspruch auf, alle anderen Heilsbringer zu überbieten und das Werk, das sie begonnen haben, zu vollenden. Christus ist Höhepunkt und Ziel der göttlichen Heilspädagogik, die bereits in der zaghaften Befreiung des Bewußtseins vom Unbewußten und des Einzelnen vom Kollektiv in der Ur- und Frühgeschichte zu wirken begann, sich im Polytheismus fortsetzte und bei den Juden geschichtsmächtig wurde.

Was von den Helden, den Heils- und Kulturbringern des Mythos erzählt wird, ist nur Vorschein und Symbol der realen, geschichtlichen Erlösungstat Christi. Und nur von dieser Erlösungstat her läßt sich das christliche Abendland begreifen. Die Bedeutung des schöpferischen Einzelnen im Abendland, die ständige Dynamik der geschichtlichen Bewegung und Entwicklung unseres Kulturkreises – all diese Aspekte, die auch Neumann hervorhebt (vgl. 405 f.), sind nur von Christus und seiner Überwindung der mythischen Urmächte her verständlich.

Christus ist der Verbündete des Einzelnen, des Ich in seinem Verlangen nach Verewigung, während der Mythos nur den ununterbrochenen Kreislauf des „Stirb und werde“ kennt, in dem der Einzelne verschlungen wird und untergeht. „Auferstehung“ heißt im Mythos nicht Verewigung, sondern Erneuerung im Naturrhythmus. Ewig ist nur die Große Mutter, nicht das Ich. Wo Erich Neumann diesem „Stirb und werde“ die Unzerstörbarkeit des Geistes gegenüberstellt (vgl. 267), befindet er sich bereits in der Nähe des christlichen Glaubens. Indem Christus die Einzelseele, das einzelne Ich beruft, wird er zu dessen Verbündeten in dem, was man mit Neumann als Heldenkampf des Bewußtseins gegen den Sog des Unbewußten verstehen kann. Christus ist dabei aber keiner der zahlreichen mythischen Helden, sondern der historische, reale und endgültige Heilsbringer.

Unmißverständlich heißt es bereits im zweiten Petrusbrief (2 Petr 1,16): „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Mythen gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen.“ Der Mythos wird schon hier als bloßes Produkt menschlicher Erfindungskraft abgetan und dem historischen, von Augenzeugen bestätigten Auftreten des fleischgewordenen Gottessohnes entgegengesetzt. Auch die Nüchternheit des Bewußtseins (im Gegensatz zum Rausch des Unbewußten) wird im Neuen Testament gefordert: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (1 Petr 5,8). Im christlichen Abendland war der Mythos somit bestenfalls in seiner „entschärften“ Form, als „gebrochener Mythos“ (Paul Tillich), akzeptabel.

Nicht nur das christliche Verdikt, sondern auch Max Webers These einer fortschreitenden „Entzauberung der Welt“ durch die abendländische Rationalität ließe erwarten, daß der Mythos im Abendland nach und nach seine Faszinationskraft verliert. Doch wann immer Rationalität und Positivismus ihren Sieg über den Mythos proklamierten, erwies dieser früher oder später wieder seine nahezu ungebrochene Vitalität. Die Forschungen Jan Assmanns haben die fortdauernde Faszinationskraft aufgewiesen, die der mythische, heidnische Kulturraum Altägyptens auf das christliche Abendland ausgeübt hat. Der christliche Glaube hat den Mythos niemals gänzlich entmachtet, sondern bestenfalls „gezähmt“. Man könnte sagen, daß das Christentum ein Versuch war und ist, den Tiger namens „Mythos“ zu bändigen und zu reiten, ihn auf dem Weg zum fleischgewordenen Gottessohn einzuspannen und seine destruktiven Kräfte niederzuhalten. Wenn Paulus in 1 Kor 3,21-22 die korinthische Christengemeinde darauf hinweist, daß alles ihr gehört („alles ist euer“), dann kann man dies auch auf den Mythos beziehen. Auch der Mythos und seine Symbole gehören dem Christen, können vom Glauben frei gehandhabt werden, um der Verkündigung und der göttlichen Heilspädagogik zu dienen. Denn die ursprüngliche bannende und überwältigende Macht des Mythos ist durch Christus überwunden.

Der Mythos ist Ausdruck des „kollektiven Unbewußten“, von dem Neumann in der Nachfolge seines Lehrers C. G. Jung spricht. Neumann ist zuzustimmen, wenn er betont, daß vom Unbewußten ein Sog ausgeht, und wenn er davor warnt, daß das Unbewußte jederzeit das Bewußtsein „zurückschlucken“ könnte, und zwar nicht nur beim Einzelnen, sondern auch in Form der Regression eines ganzen Kulturkreises. „Die alte Verführung, mit welcher der Rattenfänger, der hypnotisierte Hypnotiseur der Massenepidemie lockt, ist der Uroboros-Inzest“ (473), also die inzestuöse Wiedervereinigung des Sohnes mit der Großen Mutter, eine Vereinigung, die mit dem Verlust von Bewußtsein, Freiheit und Verantwortung erkauft ist. Was Neumann als große Gefahr der Gegenwart beschreibt, droht auch weiterhin: „Die Dämonen und Archetypen werden wieder autonom, die Einzelseele wird von der furchtbaren Mutter zurückgeschluckt, und mit ihr die individuelle Erfahrung der Stimme, die Verantwortung der einzelnen Individualität vor Mensch und vor Gott ungültig“ (471).

Wer Neumanns Buch liest, wandert passagenweise durch ein Museum der Abscheulichkeiten aus Ritus und Mythos: Menschenopfer, Kastration, Zerstückelung, Kannibalismus, Inzest, Mutter-, Vater- und Geschwistermord … kaum eine denkbare Scheußlichkeit scheint ausgespart zu werden. Zwar würde Neumann auf den archetypischen, symbolischen Charakter einiger dieser Bilder hinweisen – und doch ermißt man beim Lesen von Neumanns Hauptwerk als Christ, wovon Christus uns durch sein Kommen befreit hat, und wohin ein Rückfall ins Heidentum das Abendland führen könnte.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, war die Ursprungsgeschichte des Bewußtseins nicht zuletzt auch ein kulturtherapeutischer Versuch. Es galt zu verstehen, was den europäischen Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwältigt und in den Abgrund gerissen hatte, und es galt, Entwicklungschancen aufzuzeigen: „Die bewußte Hinwendung zum Unbewußten und die verantwortliche Auseinandersetzung des menschlichen Bewußtseins mit den Mächten des Unbewußten ist die Aufgabe der Zukunft. Keine äußere Weltveränderung und keine soziale Veränderung vermag die Dämonen, Götter und Teufel der menschlichen Seele zur Ruhe zu bringen und zu verhindern, daß sie immer von neuem einreißen, was das Bewußtsein baut“, schreibt Neumann (418 f.) Als Christ kann man hier einen Widerhall der Jesusworte (Mt 16,26) hören: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Jene von Neumann geforderte „bewußte Hinwendung zum Unbewußten“ aber, und die Bewältigung der Dämonen, Götter und Teufel, kann das Abendland nur mit Hilfe des Glaubens leisten und siegreich überstehen.

 

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Literatur:

Erich Neumann: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins. 2. Aufl. Olten 1974.

Über den Unterschied zwischen Christus und den Heilsbringern des Mythos informiert ausführlicher Romano Guardini: Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Eine theologisch-politische Besinnung. Mainz 1979.

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