LOGBUCH LXXIV (30. Juni 2025). Von Michael Rieger
Vor kurzem wurde ich ungewollt Zeuge eines verstörenden Vorfalls, bei dem der Fahrer eines zugegeben schicken italienischen Sportwagens mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen schnell und demonstrativ rücksichtslos rückwärts in eine Einbahnstraße fuhr und dabei nicht darauf achtete, daß in eben diesem Moment ein Radfahrer seinen Weg kreuzte – nur, indem der Radfahrer instinktiv vom Radweg auf die Straße auswich, konnte er sein Leben noch retten. Ein Sekundenbruchteil hatte hier vor meinen Augen über Leben und Tod eines Menschen entschieden. Das sehr schlecht gespielte Präludium war das Aufheulen des Motors gewesen – alle auf der Straße hatten wir hinstarren müssen. Egotrip mit Ansage, mit Publikum, mit Soundtrack.
Nun war der Radfahrer unmittelbar danach und spürbar unter Schock stehend auf den Sportwagen zugegangen, um dessen Fahrer, der noch bequem in seinem Gefährt saß, zur Rede zu stellen. „Das kannst du doch nicht ernst meinen, Meister.“ Doch. Denn anstatt eine Entschuldigung von sich zu geben, tut mir ja auch irgendwie leid, brüllte nun ausgerechnet der Sportwagenfahrer jenen Radfahrer gleich maßlos an, wie ein Kettenhund den Gefangenen einschüchternd, was er denn wolle, Kaspar, das sei ja lachhaft, er solle sich bloß zum Teufel scheren, und ja, wenn er die „Bullen“ holen wolle, dann nur zu, dann soll er das doch verdammt noch eins machen, das sei ihm völlig Banane. Sprach’s und zog von dannen, während sein Sportwagen protzend & auf einem Behindertenparkplatz gut geparkt verblieb.
Ein schockierender Moment und schockierend vor allem, wie innerhalb der totalen Rücksichtslosigkeit noch die Anmaßung hervorscheint: Den Geschädigten herabwürdigend niederzubrüllen, als wären wir hier 1943 auf dem Exerzierplatz. Das Niederbrüllen als Kompensation des eigenen völligen Versagens – ja, so mag zu lesen sein, und doch erschien das ganze mehr als schiere und eingeübte Selbstverständlichkeit, als Normalität, als vollendete Normalität der Nicht-Normalität.
Machen wir uns nichts vor. Wie heruntergekommen ist doch alles, wie verlottert ist der öffentliche Raum.
Wir leben in einer Zeit, in der der russische Präsident mit seiner doch nicht ganz so gut geölten Militärmaschine seit Jahren ein Land zu überwältigen sucht, das ihm nicht zu Willen sein will, das er eben deshalb auszulöschen sucht und dann, dem allgemein verbreiteten Selbstbild gerecht werdend, schändend und folternd mit Horror überzieht, parallel jeden noch so alten KGB-Trick einsetzend, um die Welt zu manipulieren und an der Nase herumzuführen. Eine Welt, in der sich der empathieunfähige und wirr agierende Präsident der USA als Sinnbild der verantwortungslosen Inkompetenz durch jeden einzelnen Tag lügt, ganz so, als wolle er Pinocchio alle Ehre machen. Nun, mag man es so sehen: Diese beiden abstoßenden Typen sind nur die Spitze des Eisbergs verrohter, narzißtischer Gesellschaften, in denen ohnehin alles längst egal ist; oder aber man sieht es umgekehrt: Diese Gesellschaften geben alles, um jene verantwortungslosen, macht- und gewaltbesessenen Psychopathen nachzuahmen, in allen Lebenslagen, in allen Gehaltsklassen, in allen noch so erbärmlichen Formen der Selbstüberschätzung und der Selbstbeweihräucherung und nicht zuletzt der Selbstbefriedigung, um ihren kleinen Vorteil zu erhaschen.
Womit wir wieder bei unserem Sportwagenfahrer wären.
Aber hätten wir nicht schon oft genug Raser erlebt, die andere mit Freude gefährden, um für sich ihren sehr kleinen Kitzel zu haben? Aber haben wir nicht schon oft genug Kinder beklagen müssen, die vor ihrem Kindergarten von Hunden angefallen worden sind, weil die lässig und gut gekleidet und gesund vorbeijoggenden Halter es als Tierquälerei empfanden, ihren Hunden, die ja sowieso stets nur spielen wollen, Leinen anzulegen, wie es das Gesetz vorsieht? Auf welchem Spielplatz haben diese Hunde denn noch nicht ihr mieses, übles Geschäft verrichtet, wie Putin und Trump ihre miesen und üblen Geschäfte verrichten vor den Augen aller Öffentlichkeit? Wie viele Radfahrer sind auf dem Gehweg dahingerast, nur, um ja die nächste Oma zu terrorisieren, die sich mal wieder aus dem Haus gewagt hatte? – wider besseres Wissen. Wie viele E-Scooter-Fahrer sind schon über Rot gebraust, um den noch wartenden dummen Fußgängern jene überfällige Lektion zu erteilen, derzufolge sie hier unter Garantie nicht mehr sicher sind? Wie viele grinsende Mamas auf Lastenrädern gaben dem Ritt der Walküren unvermutet einen ganz neuen tieferen Sinn? Wir machen platt, was sich uns in den Weg stellt. Mit wie vielen Polizisten habe ich schon gesprochen, die eingestanden, daß diese Verlotterung doch längst unser Alltag ist und keineswegs ein Grund, um sich noch über irgendetwas aufzuregen?
Und wie viele Bequeme und Narzißten sind – ohne dabei auch nur im entferntesten an Walter Benjamin zu denken – schon rückwärts in jene eine Einbahnstraße gefahren, was so offensichtlich verboten ist, wie es verboten ist, dies vorwärts zu tun? Machen wir es also kurz und knapp: Der Verkehr ist kein so schlechtes Sinnbild einer kaputten Gesellschaft – jeder gegen jeden, homo homini lupus est. Alles nur ein Kurzschluß? Nein: Putin und Trump können uns auslöschen und der Sportwagenfahrer kann das auch.
Homo homini lupus est? Ja. Und nein. Ich war nie ein Freund von Hobbes, auch wenn ich ihn durchaus bewundere (das geht mir übrigens mit Kant auch so, aber das ist wirklich ein anderes Thema). Die Frage, die sich ableiten ließe aus all dem, kommt daher wie die Frage nach der Moral: Wieso erlauben wir es den blödesten und verblödetsten Politikern, unsere Geschicke mitzubestimmen? Haben wir keinen Selbstrespekt mehr? Wieso erlauben wir es den dümmsten und armseligsten Narzissten, den öffentlichen Raum ohne Sanktion für ihre minderbemittelte Aufwandsvermeidung, für ihren Privatspaß zu nutzen? Wieso sehen wir der Verlotterung stets stillschweigend zu und lassen jene gewähren, die uns nichts Gutes wollen, weil sie gar nicht an andere denken können? Mögen wir sie denn, die sich vor uns Erbrechenden, die Vordrängler, die sich alles Anmaßenden, die alles Errungene zur Sau machen? Nein, tun wir nicht, aber wir erlauben all das, weil uns die öffentlichen Maßstäbe abhanden kamen.
Doch jene sind nicht alle. Wir sind besser als die. Wir sind besser als das. Wir sind besser als das, was jene Unvermögenden sich entschieden haben zu sein. Aber was sind wir dann?
Der Humanismus sagt es uns und er wurde uns nicht ohne Kämpfe in die Wiege und in den Schoß gelegt. Er hat uns allerhand hinterlassen. Nehmen wir das Erbe an! Etwa jenes Bild eines selbstreflektierenden und nicht mehr und nie wieder unmündigen Menschen (Ehre sei Kant), eines mündigen Menschen in der Gemeinschaft anderer mündiger Menschen, ja, die sich darüber im Klaren sind, daß der Geist des Menschen nicht allein und doch zuvörderst im Wesen der Kritik lebt, in der Anschauung, in der Überlegung und der Möglichkeit, das so Miese vom Guten zu trennen (griechisch kritiké), was wiederum zum Vorteil aller Menschen sei. Oder das Bild eines Menschen, der Kultur hat und nicht nur seinen Trieben folgt, wie sie ihn gerade ankommen (siehe oben).
Mag der vormundschaftliche Staat 1989 überwunden worden sein, Putin hat es vergessen, an Herders edle Briefe zur Beförderung der Humanität sei aber hier erinnert, weil der Staat der Mündigen längst noch nicht ist, in diesen dunklen Tagen der tiefsitzenden allgemeinen Geistlosigkeit in Ost und West: Sollen „menschliche Gesinnungen herrschen“, wie Herder meint? Werden die Menschen „einsehen lernen, daß durchs Kriegsbeil nicht gewonnen, aber viel verheert wird“? Ist die „Friedensgöttin Vernunft“ so außer Mode und außer Kurs, daß niemand sie mehr hört? Denn ja, die Friedensgöttin Vernunft tritt „leise“ an die Menschen heran, was die Sache sichtlich erschwert: Jene, die stets schreien und niederbrüllen, werden sie kaum vernehmen, aber jene, die Ohren haben zu hören, haben sie längst gehört, jenes haben sie vernommen, wonach die Geschichte (und es ist unsere Geschichte!) auf der „Regel des Rechts und des Unrechts“ beruhet. Wie soll das einer begreifen, der nicht einmal den Sinn eines Straßenschilds begreift?
Herder ist mausetot und doch so viel lebendiger als viele unserer Zeitgenossen, die in ihrem stumpfen Vegetieren das verheeren, was andere aufgebaut haben. Herder wäre kein Humanist gewesen, wäre er bei dem Verdikt des Homo homini lupus est stehen geblieben. Warum sollten wir also, gerade wir dabei stehen bleiben? Wenn man in eine Einbahnstraße gefahren ist, dann kann man bekanntlich auch wieder herausfahren, man sollte es nur in der richtigen Richtung tun.
Die geneigte Leserin, der geneigte Leser beachte den vorangegangenen „Versuch über den Humanismus“ mit dem Titel „Persona non grata“ im Lepanto-Almanach, Band 3 (2022), S. 281–296.
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