Ein Blick auf das Phänomen der Wokeness aus christlich-realistischer Sicht

LOGBUCH LXI (15. Juni 2024). Von Christoph Rohde

Die sogenannte Woke-Bewegung hat zu heftigen Debatten geführt. „Wokeness“ ist von den Universitäten über die Medien und die Kunstbranche bis in die Ideologie global tätiger Konzerne eingedrungen. Die relativ diffuse, schwer zu definierende und dennoch wirkmächtige Bewegung, die vor allem in intellektuellen Zirkeln westlicher Universitäten als scheinbar progressives Paradigma entstanden ist, hat ihre Wurzeln in einer gesellschaftlichen Identitätskrise, die durch den Rückzug des christlichen Glaubens maßgeblich mitbedingt ist. Die neo-gnostische Woke-Bewegung führt zur Wiederbelebung von Gedanken, die bereits ab dem 12. Jahrhundert von Kritikern der katholischen Kirchenlehre formuliert worden waren. „Wokeness“ basiert auf strikten moralischen Dichotomien: Die Einteilung der Gesellschaft in gute und böse Akteure führt zu Wiedergutmachungsansprüchen selbsterklärter Opfergruppen. Diese Ansprüche werden an die Gesamtgesellschaft gestellt. Die Opfergruppen sind in Form von Nichtregierungsorganisationen und Lobbygruppen bestens organisiert und koalieren meist mit linken politischen Kräften in westlichen parlamentarischen Systemen.

In diesem Beitrag werden die Vorstellungen woker Akteure vom Individuum, von gerechten und ungerechten Gesellschaftsstrukturen, vom Verhältnis Mensch–Natur und vom Wert der Sexualität skizziert. Am Ende wird gezeigt, daß das Gutgemeinte, vertreten mit großer Radikalität, in diesem Fall nicht nur nicht zum Ziel führt, sondern geradezu das Gegenteil des Intendierten erreicht.


Die Auflösung des Individuums, das unsere liberale Gesellschaft konstituiert

Die teilweise widersprüchlichen Gedanken der Wokeisten sind viel gefährlicher für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, als es auf den ersten Blick scheint. Dies hängt damit zusammen, daß der Wokeismus den Kern des Menschenbildes angreift, auf dem unsere traditionelle Ordnung beruht. Dieses Menschenbild basiert auf der christlichen Anthropologie, die den Menschen als zur Freiheit und Verantwortlichkeit befähigtes Wesen betrachtet. Der Mensch, geschaffen zur Liebe zum Schöpfer und befähigt zur Gestaltung der Schöpfung, jedoch gefallen in Sünde und Egoismus, wird im christlichen Weltbild als frei angesehen. Von der Erbsünde belastet, gibt es für den Menschen durch Jesus Christus den Weg zur Erlösung am Ende der Zeiten. Die den Menschen ausmachende Individualität wird durch seine Seele konstituiert, einem autonomen Willenszentrum, das zu freien Entscheidungen befähigt ist. Durch seine Seele wird der Mensch liebes-, weil moralisch entscheidungsfähig.

Im christlichen Weltbild ist die Schöpfung gut, doch es sind freiwillig getätigte böse Entscheidungen, die die Schöpfung verderben; dazu kommen strukturelle Faktoren, die den Menschen unterschiedlichen Versuchungen aussetzen. Es gibt alternative Weltbilder, in denen die Schöpfung als heillos schlecht angesehen wird. Aspekte dieser lebensfeindlichen Weltbilder, die sich explizit gegen das christliche Naturrecht mit seiner Schöpfungsordnung richten, beeinflussen die Woke-Bewegung erheblich. Sie führen zur Auflösung eines einheitlich gedachten Individuums, das durch willkürlich gewählte Identitäten und Lebensformen ersetzt wird. Damit geht jede Verantwortlichkeit für das Handeln verloren.


Die monokausale Ursache des Bösen

Einige Beobachter verorten das Denken der woken Bewegung in der Tradition der Katharer und Albigenser. Die Katharer bildeten vor allem im südlichen Europa zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert eine populäre kirchenkritische Reformbewegung. Sie betrachteten die materielle Welt als absolut böse. Das Böse wiederum sei durch den Gott des Alten Testaments erzeugt worden, dessen Autorität die Katharer deshalb nicht anerkennen konnten. In ihrem Denken mußte nicht die natürliche Schöpfungsordnung und mit ihr jedes Individuum von der Sünde erlöst werden, sondern der Einzelne mußte sich aus der an sich fehlerhaften Ordnung der Schöpfung befreien. Deshalb nannten sich ihre Vertreter die „Reinen“, was der Ursprungsbedeutung des Wortes „Katharer“ entspricht.

Diejenigen, die innerhalb der Bewegung den größten moralischen Rigorismus vertraten, wurden die „Vollkommenen“ genannt. Sie verweigerten die Ehe, weil durch diese die böse natürliche Ordnung reproduziert werde. Der Konsum von Fleisch wurde in diesem asketischen Weltbild ebenso abgelehnt wie das Privateigentum. Die Todesstrafe und die Teilnahme an Kriegen wurden als unmoralisch abgelehnt. Selbstmord war für diejenigen Personen moralisch akzeptabel, die die richtige Motivation für diesen Akt der Lebensverleugnung hatten, nämlich die Schonung der wahren, reinen Schöpfung. Selbst die Tötung von Kindern wurde manchmal von katharischen Gruppen praktiziert. Wie die Tötung päpstlicher Legaten durch die Katharer zeigt, wurde die Tötung von Feinden ebenfalls in bestimmten Fällen als legitim erachtet. Die Bewegung der Katharer, die von der katholischen Kirche als gefährliche Ketzerbewegung betrachtet und gewaltsam bekämpft wurde, bestand zum Großteil aus Mitgliedern der Oberschicht, was für die Woke-Bewegung der Gegenwart ebenso gesagt werden kann.


Sexuelle Perversionen erlaubt, Fortpflanzung nicht

Die „Gläubigen“ unter den Katharern lebten nicht mit gleicher Konsequenz wie die „Vollkommenen“. Der Umgang der Katharer mit ihrer Sexualität erinnert jedoch in vielfacher Hinsicht an den woken Lebensstil der Gegenwart. Sexuelle Ausschweifungen jeder Art wurden geduldet, nicht aber die Fortpflanzung. Da Homosexualität nicht zur Reproduktion führen kann, wird sie durch die Woke-Bewegung häufig präferiert. Wo die Kirche Sexualität als Akt zur Fortpflanzung begrüßt, da wurde der Geschlechtsverkehr von den Katharern nur als praktizierte Lust akzeptiert. Die von den meisten Vertretern der woken Bewegung befürwortete Abtreibung paßt in die Lehre vom Haß auf das menschliche Leben hinein.

Die Woke-Bewegung der Gegenwart lehnt eine vorgegebene Geschlechtsidentität ab und geht von der sozialen Konstruktion des Geschlechts aus. Deshalb werden Transsexuelle besonders hofiert, wie sich bei Filmpreisen oder beim Eurovision Song Contest deutlich zeigt. Je weiter ein Individuum oder dessen Vorstellungen von einer angeblichen Norm abweichen, desto mehr werden diese Personen als Symbole für ihre Selbstbestimmung (self-empowerment) bewundert. Es wird versucht, der angeblichen Gefangenschaft im eigenen Leib durch operative Geschlechtsumwandlungen oder durch mentale Identitätsveränderungen zu entfliehen; die Bindung an biologische Vorgaben wird radikal abgelehnt. Eine weitere Spielart des Woken ist das Zurück-zur-Natur-Paradigma.


Freiheit von der materiellen Welt

Der Verurteilung der materiellen Welt in der Ideologie der Katharer entspricht im modernen Wokeismus der sogenannte Post-Materialismus. Der zivilisierte und seine Umwelt bewußt bearbeitende Mensch wird für alle negativen Seiten der modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht. Diese Zivilisationskritik erinnert an Jean-Jacques Rousseaus Vorstellung vom edlen Wilden, der aus seinem naturgegebenen Paradies durch die Einführung von Geld und Privateigentum vertrieben worden sei.

In der radikalen Umweltbewegung Extinction Rebellion wird der Mensch als Krebsgeschwür betrachtet, das die natürliche Ordnung stört und zerstört. Die Rückkehr zu einer ideal gedachten, jedoch nie real existierenden Natur gehört zu den Zielen des diffusen, kaum greifbaren woken Denkens. Dazu kommt ein radikales Veganertum, das moralistisch begründet wird. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, daß die unberührte Natur aus einem schonungslosen Überlebenskampf besteht, der unreguliert zur Ausrottung schwächerer Kräfte führt.


Die Anthropologie

Ideologien bauen meist auf einer reduzierten Vorstellung vom Menschen auf. Die christliche Anthropologie gewinnt ihren Freiheit gewährenden Realismus gerade aus einer komplexen Anthropologie. Erst die verschiedenen Rollen, in die der historische Mensch eingebunden ist, lassen ihn zu einem Individuum mit einer eigenen Identität werden.

Vom christlichen Glauben inspirierte ideologiekritische Denker wie Eric Voegelin, Reinhold Niebuhr oder Walter Lippmann haben Mitte des 20. Jahrhunderts in beeindruckender Weise verdeutlicht, wie die ursprünglich vernünftigen Ideen der Aufklärung in vernunftfeindliche Ideologien verwandelt wurden, die im Namen scheinbarer Gerechtigkeit und Gleichheit gewaltsame und unmenschliche Strukturen hervorbrachten. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren Großideologien, die durch die postmoderne Bewegung dekonstruiert wurden.


Die Instrumente von Widerspruch und Willkür machen unangreifbar

Es wird ersichtlich, daß die woke Ideologie keine Konstruktion einer stabilen Gesellschaft ermöglicht. Im Gegenteil: Indem die Wokeness alle Gewißheiten in Frage stellt, das Unrecht einseitig beklagt und die Gesellschaft willkürlich in Opfergruppen einteilt, entsteht eine Dynamik, die die notwendige rechtsstaatliche Gleichheit aller gesellschaftlichen Akteure zerstört und zu willkürlichen Setzungen führt.

So wird beispielsweise von Woken die angebliche Unterdrückung der Frau in westlichen Gesellschaften moniert. Dagegen wird der Umgang islamischer Staaten oder islamistischer Bewegungen, die Frauen in feste Rollen pressen und sogar Gewalt gegen Frauen wegen „Ungehorsams“ tolerieren, als kulturelle Eigenart entschuldigt und toleriert. Die gewalttätigen Praktiken indigener Völker oder traditioneller Religionen werden romantisiert. Daß die individuellen Menschenrechte, mit Hilfe welcher sich die beschworenen Normen der Woken überhaupt erst begründen lassen, im verhaßten Westen entwickelt und durchgesetzt wurden, spielt für die Kämpfer gegen die angebliche westliche Hegemonie keine Rolle. Die identitätspolitische Konstruktion von Opfergruppen, deren Zahl ständig wächst, verstärkt Grenzziehungen und damit rassistisches Denken, wie Alexander Wendt in seinem vielbeachteten Buch Verachtung nach unten: Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können zeigt.

Die Existenz von Moralwächtern, die klassische Texte mit Hilfe eines willkürlichen Moralkodex’ umschreiben wollen, zeigt die Bildungsferne der woken Bewegung. Die enorme Selbstbezogenheit dieser Gruppe führt zur Anmaßung, sämtliche vor ihnen lebende Generationen im Namen einer willkürlichen Gerechtigkeit verurteilen zu dürfen.


Achtsamkeit wird zur Ächtung anderer

Die ursprüngliche positive Idee der „Achtsamkeit“, aus der die Woke-Bewegung in den Zeiten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung hervorging, wurde durch die moralisch erpresserische, neo-marxistisch unterwanderte woke Ideologie in ihr Gegenteil verkehrt. Rücksichtslos fordern aggressive, selbst ernannte Opfergruppen die moralische Kapitulation einer als homogen definierten Gesellschaft vor ihren Forderungen. Die Mitgliedschaft in einer Opfergruppe bedeutet Förderung und sogar soziale Anerkennung durch ähnlich gesinnte Menschen. Es ist wichtig, die guten Gedanken dieser Bewegung aufzugreifen, ihren radikalen Gestus jedoch mit positiven Ideen geistig niederzuringen. Eine Rückkehr zu einem bekennerfreudigen christlichen Glauben wäre ein vielversprechender Schritt in diese Richtung.


Nachbemerkung:
Der Teil des Artikels zu den Katharern basiert maßgeblich auf dem Artikel von Edward Feser: Wokism is the New Face of An Old Heresy, And It Can Be Defeated Again. URL: https://www.postliberalorder.com/p/wokism-is-the-new-face-of-an-old

 

Abbildung: pexels.com

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