Christlicher Transhumanismus

Logbuch XXVII (3. April 2022). Von Susanne Hartfiel

Leser der ersten drei Beiträge dieser Serie werden gemerkt haben, daß Argumentationsmuster und Forderungen der Transhumanisten und ihrer Förderer nicht nur in wissenschaftlichen Zirkeln entwickelt und propagiert werden, sondern vielfach bereits ihren Weg in die Mainstream-Medien und in breite gesellschaftliche Diskussionen gefunden haben. Auch Christen sind dagegen nicht immun. Der letzte Teil dieser Serie befaßt sich mit dem Einzug weltanschaulicher Grundannahmen des Transhumanismus in den kirchlichen Diskurs und die christliche Verkündigung. Die Kirchen der westlichen Welt sind tief in Entwicklungen verstrickt, die den Transhumanismus und verwandte Ideologien befördern. Den meisten Menschen ist dies vermutlich nicht bewußt. Drei Beispiele sollen die Zusammenhänge illustrieren.

Immer häufiger findet sich gegenderte Sprache auch in kirchlichen Schriften: Genderstern, „Gendergap“ oder Doppelpunkt sollen „alle Geschlechter“ mitimplizieren, die, nach der Meinung von Gendertheoretikern, individuell aus unzähligen Optionen zwischen männlich und weiblich wähl- und veränderbar seien. Alle sollen mitberücksichtigt, niemand soll diskriminiert werden. Professor Walter Krämer, Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache, hat sich kürzlich mit der Bitte an seinen Bischof gewandt, seine Kirchensteuer an ein anderes Bistum als sein Heimatbistum zahlen zu dürfen, weil er die Handreichung des Generalvikariats zur gendersensiblen Sprache inakzeptabel fand. Nach abschlägiger Antwort durch den Bischof trat er aus der Kirche aus (vgl. Kath.net, 2021a & b). Es bleibt Geheimnis des Bischofs, wie das der Handreichung zugrundeliegende Menschenbild der geschlechtlichen Vielfalt (vgl. Bischöfliches Generalvikariat, 2021, S. 7) mit der christlichen Anthropologie zu versöhnen ist, welche die Komplementarität von Mann und Frau und ihre Mitwirkung am göttlichen Heilsplan betont. Sprache, die geschlechtliche Vielfalt explizit betont, impliziert stattdessen, daß das natürlich vorgegebene Geschlecht willentlich ignorier- und veränderbar sei. Eine solche natürliche Festlegung stelle also letztlich eine unzumutbare Einschränkung dar, die Wahl des Geschlechts müsse vielmehr gänzlich der Verfügungsgewalt des Menschen unterworfen sein.

Dies ist jedoch keine christliche Annahme, sondern eindeutig eine transhumanistische (vgl. Dvorsky & Hughes, 2008). Bischof, Generalvikariat und die die Handreichung mitherausgebenden katholischen Verbände scheinen bereit zu sein, ihr christliches Menschenbild aufzugeben, um Menschen, die sich einer sexuellen oder geschlechtlichen Minderheit zugehörig fühlen, Wertschätzung zu vermitteln. Sollte die Kirche diesen (und allen) Menschen nicht vermitteln, daß sie als geliebte Geschöpfe Gottes ohnedies unendlich wertvoll sind und diese Würde immer schon besitzen, also nicht erst durch bestimmte Eigenschaften, geschlechtliche Identitäten oder (sexuelle) Verhaltensweisen erwerben müssen?

Transhumanisten propagieren ein solch abgestuftes Konzept der Wertschätzung (oder Würde) in Abhängigkeit von individuellen Eigenschaften des Menschen. Es ist zutiefst unchristlich und inhuman, denn Menschen mit sozial unerwünschten Eigenschaften besitzen im transhumanistischen Denken keine Menschenwürde.

Auch in Diskussionen über Suizidbeihilfe und „Euthanasie“ vertreten Christen und Vertreter kirchlicher Einrichtungen manchmal ein abgestuftes Wertigkeitskonzept des Menschen. Dies geschieht etwa durch Begriff und Konzept der „Lebensqualität“, worin – sofern man sich nicht auf Bevölkerungsgruppen und deren Lebensumfeld, sondern auf einzelne Menschen und deren Merkmale bezieht – einzelnen Menschen und deren Leben viel oder wenig Wert zugeschrieben wird. In der bioethischen Fachliteratur existieren seit langer Zeit Beiträge, die vorgeben, die Lebensqualität einzelner Menschen bestimmen oder sogar berechnen zu können (vgl. z. B. Shaw, 1977). Menschen mit geringer Lebensqualität sind aus dieser Perspektive Menschen, deren Leben wenig Wert hat, also letztendlich wertlose Menschen. Bei einem Menschen mit anhaltend geringer Lebensqualität liegt es dann nahe, darüber nachzudenken, wie sich das wertlose Leben dieses Menschen oder das Leben dieses wertlosen Menschen verkürzen oder beenden läßt. Ergänzende Argumentationsfiguren wie eine Tötung aus Mitleid oder aufgrund angeblich selbstbestimmter Entscheidung können dabei hilfreich sein (vgl. Wolfensberger, 1984).

Es ist dieselbe Logik, die der alten Eugenik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ebenso zugrunde lag wie der zeitgenössischen transhumanistischen eugenischen Forderung, Kinder mit der besten genetischen Ausstattung zu produzieren und zu selektieren (vgl. Teil 2 dieser Serie). Christen, die die Wertigkeit eines Menschenlebens an individuelle Eigenschaften knüpfen, haben die fundamentale christliche Grundüberzeugung aufgegeben, nach der das Leben jedes Menschen in jedem Stadium seiner Existenz unendlich wertvoll ist, weil es ihm von Gott gegeben ist. Gott hat den Menschen um seiner selbst willen als sein unendlich geliebtes Geschöpf geschaffen. Der Mensch lebt, weil er, „von Gott aus Liebe geschaffen, immer aus Liebe erhalten wird“ (Gaudium et Spes, 19). Entzöge Gott uns seine Liebe, so könnten wir nicht existieren. Zu behaupten, das Leben bestimmter Menschen sei minderwertig oder wertlos, impliziert auch eine Abwertung der göttlichen Liebe.

Regenbogenflaggen schmücken neuerdings selbst Kirchtürme und kirchliche Einrichtungen. Die Kirchen bemühen sich auch öffentlich um Antidiskriminierung. Jedoch ist die Regenbogenflagge nicht primär Antidiskriminierungssymbol, sondern vielmehr das zentrale Symbol für die politischen Forderungen der LGBT-Bewegung. Doch wer denkt dabei etwa an LGBT-Forderungen nach rechtlicher Anerkennung von Mehrelternfamilien und Zugang von „Regenbogenfamilien“ zu allen reproduktionsmedizinischen Maßnahmen inklusive Eizellspende und Leihmutterschaft (vgl. z. B. Men Having Babies, 2016; LSVD, 2020)? Wem ist bewußt, daß mit dieser Flagge zugleich implizit Werbung für transhumanistische Forderungen und Ziele gemacht wird? Nämlich für das Ziel, Sexualität und Reproduktion voneinander zu trennen, so daß auch Menschen, die auf natürliche Weise keine Kinder miteinander zeugen können (etwa Alleinstehende, homosexuelle Paare oder Gruppen von mehr als zwei Menschen), ein Kind mit ihrer eigenen genetischen Ausstattung erzeugen lassen können? Oder für die Forderung nach rechtlicher Abschaffung der Ehe und der natürlichen Familie zugunsten eingetragener Partnerschaften oder anderer Beziehungskonstellationen zwischen Erwachsenen jeglicher Anzahl? Oder für die Forderung nach Aufhebung des Instrumentalisierungsverbots in bezug auf den Menschen? Laborzeugung geht immer mit der Instrumentalisierung des Kindes einher, Leihmutterschaft immer mit der Instrumentalisierung und oft auch Versklavung von Frauen und Kindern.

Hier wird deutlich: Völlig unbewußt geben die Kirchen mit der Regenbogenflagge ihre Überzeugung auf, daß der Mensch sich nicht selbst erschafft, sondern Gottes Geschöpf ist. Zugleich werden zentrale göttliche Gebote mißachtet, etwa das erste, vierte, fünfte und sechste Gebot des Dekalogs sowie das Hauptgebot der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe (vgl. Mt 22, 36-39).

Taylor Marshall (2021) weist darauf hin, daß der Begriff „transhuman“ erstmals in Dantes Göttlicher Komödie Erwähnung findet. Allerdings habe ihn Dante auf völlig andere Weise benutzt als die heutigen Transhumanisten, nämlich zur Beschreibung der Teilhabe des Menschen am Reich Gottes und letztlich an der ewigen Liebesgemeinschaft mit Gott im ewigen Leben. Denn wie beim weltlichen Transhumanismus geht es im christlichen Glauben um übernatürliches Leben und die Vergöttlichung des Menschen. Nach christlicher Überzeugung geht diese Vergöttlichung jedoch niemals vom Menschen aus, sondern immer und ausschließlich von Gott. Der Mensch kann sich nur in Freiheit für oder gegen seine Vergöttlichung, für oder gegen seine Teilhabe am göttlichen Leben entscheiden: indem er seine Erlösung durch Jesus Christus annimmt und sich bemüht, den göttlichen Willen zu erkennen und in sein Leben zu integrieren, oder indem er sich von Gott abwendet und eigene Wege geht.

Transhumanisten hingegen arbeiten an der Überwindung der menschlichen Natur durch Technologie, letztlich an der Vergöttlichung des Menschen durch den Menschen selbst. Kardinal Robert Sarah (2019) schreibt dazu: „Im 21. Jahrhundert nimmt der Totalitarismus eine subtilere und schädlichere Gestalt an. Er heißt Vergötterung der vollständigen und uneingeschränkten Freiheit, wie es sich am aggressivsten in der Gender-Ideologie und im Transhumanismus zeigt. […] Die atheistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts haben es geschafft, die Menschen von Gott zu trennen. Nun wollen neue Weltanschauungen seine Natur verändern und beherrschen. Der Mensch hat sich sein eigenes Paradies erträumt. […] Der Mensch hat sich freiwillig von Gott distanziert und versucht nun, seinen Körper umzuformen. Werkzeuge dieser aktuellen Neuschöpfung sind die Wissenschaft und neue Technologien. Mensch und Natur müssen sich unter das drückende Joch der Forschung beugen. Man lockt uns mit einem simplen Versprechen: Der verbesserte Mensch wird unsterblich sein, sein Intellekt ohnegleichen, seine physischen Kräfte verzehnfacht. Die Genetik ist ein neuer Gott. Niemand weiß, auf welches Unglück wir uns zubewegen, doch wir rennen wie wahnsinnig weiter [...], wir werden diesen selbstzerstörerischen Wahn teuer bezahlen müssen. Der erweiterte Mensch wird als reduzierter Mensch enden. Dieser ungeheuerliche Weg führt zur Kommerzialisierung und Vermarktung des Menschen. Hinter der uneingeschränkten Emanzipation des Menschen verbirgt sich ein gezielter Aufstand gegen Gott. Wir wollen Ihm beweisen, daß wir alles ohne Ihn bewerkstelligen können, indem wir die Mängel Seiner Schöpfung beseitigen, also den perfekten Menschen schaffen. […] Wissenschaftler, die den Transhumanismus fördern, versuchen, die zweifellos älteste Sehnsucht der Menschheit zu verwirklichen, welche der Teufel Adam und Eva hinterhältig eingeprägt hat. In der Bibel versichert die Schlange der Frau: ‚Sobald ihr davon eßt, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse‘ (Gen 3, 4-5). Das Vorhaben, die Natur des Menschen zu erweitern, ist also nichts Neues.“

Christen werden die Verseuchung ihres Denkens durch inhumane transhumanistische Versatzstücke nur überwinden, wenn sie sich wieder ganz Gott zuwenden und hingeben. Dazu gehört gerade heute eine Neubesinnung auf das christliche Menschen- und Weltbild, eine neue Wertschätzung seiner Schönheit, ein neues Verständnis seiner tiefen und weitreichenden Implikationen für jeden einzelnen Menschen, für Kultur und Gesellschaft. Ohne diese Neubesinnung und Neuausrichtung, ohne die Hingabe an Gott, hat die westliche Welt der transhumanistischen Barbarei nichts entgegenzusetzen.


Literatur:

 

Bischöfliches Generalvikariat (Hrsg.) (2021): Geschlechtersensible Sprache. Handreichung für das Bistum Hildesheim.

Dvorsky, George & Hughes, James (20. March 2008): Postgenderism: Beyond the Gender Binary. Hartford/CT, Institute for Ethics and Emerging Technologies. Siehe https://www.academia.edu/7553496/Postgenderism_Beyond_the_Gender_Binary

Kath.net (26. Oktober 2021a): Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache: Auf der Suche nach einem neuen Bistum. Siehe https://www.kath.net/news/76605

Kath.net (18. November 2021b): Das Bistum Hildesheim – die Katholikenvertreiber! Siehe https://www.kath.net/news/76831

LSVD (2020): Was fordert der LSVD für Regenbogenfamilien? LSVD-Positionspapier „Regenbogenfamilien im Recht“.
Siehe https://www.lsvd.de/de/ct/458

Marshall, Taylor (15. November 2021): Transhumanism and Dante: Can Christians support Transhumanism?
Siehe https://www.youtube.com/watch?v=scYdSIyVAq4

Men Having Babies (2016): Rahmenbedingungen für die Prinzipien ethischer Leihmutterschaft für zukünftige Eltern. Siehe https://www.menhavingbabies.org/advocacy/ethical-surrogacy/


Sarah, Robert u. Diat, Nicolas (2019): Herr bleibe bei uns denn es will Abend werden. Bad Kißlegg, Fe-Medienverlag.

Shaw, Anthony (5. Oktober 1977): Defining the Quality of Life. In: The Hastings Center Report, 7 (5), S. 11. Siehe https://www.jstor.org/stable/3560715

Wolfensberger, Wolf (1994d): Let’s hang up “quality of life” as a hopeless term. In: Goode, David (Hrsg.): Quality of life for persons with disabilities: International perspectives and issues (S. 285-321).
Cambridge, Brookline Books.

Zweites Vatikanisches Konzil: Gaudium et Spes (7. Dezember 1965). Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute. Siehe http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents /vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html

 

 

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