Aussaat und Ernte – Der „Herzhafte Hauskalender 2024“ als musischer Begleiter durch das Jahr

LOGBUCH LVIII (15. März 2024). Von Christoph Fackelmann


Der „Herzhafte Hauskalender“ des Sozialen Friedenswerks mit dem schönen sophokleischen Motto „Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind wir da!“ blickt inzwischen auf eine über 70-jährige Geschichte zurück, und diese knüpft ihrerseits an eine noch um ein Vielfaches ältere Tradition von staunenswerter Kraft und Würde an. Denn die Kalenderliteratur gehört zu den ältesten Erscheinungsformen des Buchdrucks überhaupt und hat einen reichen und vielfältigen Kosmos herausgebildet. In der frühen Neuzeit und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bildete der Bauern- oder Hauskalender zudem oft das einzige Druckwerk, dessen sich einfache Menschen bedienten – abgesehen von der Bibel und dem Gesangbuch, aber selbst auf deren Gebiet übernahm der Kalender charakteristische Aufgaben. Er verstand sich nämlich nicht nur als Ratgeber in praktischen Sachen, als Weiser durch das Bauern- und das Kirchenjahr, sondern bot auch Belehrendes, Erbauliches und Besinnliches. Im Bereich der literarischen Unterhaltung im engeren Sinn zog er sich eigene Gattungen heran – z. B. das Kalendergedicht und die Kalendergeschichte –, deren Bedeutung mit dem Vordringen des aufklärerischen Volksbildungsgedankens erheblich zunahm und die Aspekte der religiösen Orientierung schließlich fast völlig zurückdrängte.

Wer den neuen „Herzhaften Hauskalender“ aufschlägt, erkennt gleich, daß sich seine Gestalter dieser denkwürdigen Herkunftsdimensionen höchst bewußt sind und daß sie ihre Arbeit in liebevoller wie auch in kluger und kundiger Weise in den Dienst der Geschichtsmacht stellen, die das Genre repräsentiert. Ebenso verdienstvoll ist, daß sie dies tun, indem sie im positiven Sinn modern – nicht modernistisch – an Literatur-, Kunst- und Geistesgeschichte teilhaben. Von der überkommenen Gattung inspiriert, greifen sie also weit aus und scheuen nicht davor zurück, auch inhaltliche und formale Spannungen einzubauen und auszutragen.

Im nunmehr zweiten Jahr wird der Hauskalender von Konrad M. Weiß und Caroline Sommerfeld zusammengestellt. Sie rücken ihre Auswahl jeweils unter ein thematisch-motivisches Vorzeichen, das auf eine fundamentale kulturelle Lebensäußerung des Menschen oder auf eine zentrale (immaterielle) Kategorie der Menschenexistenz verweist. Nach den „Engeln und Teufeln“ im vorigen Jahr sind es heuer „Aussaat und Ernte“. Dankbar spürt man auf jeder Seite des Kalenders Freude, Lust und Scharfsinn, mit denen die Gestalter ihr Material zusammengetragen und aufgefächert haben. Überall lassen sich die Spuren geistvoller, bewegender, erhellender Wechselbeziehungen verfolgen. Das beginnt bei der feinen Gestaltung des vorangestellten eigentlichen Kalendariums. Es führt über den geschmackvoll integrierten Bildanteil, dem alte und neue Graphiken, berühmte Realisierungen der Leitmotive aus der Kunstgeschichte, aber auch kalendertypische folkloristische Vignetten sowie eindrucksvolle Photographien angehören.

Im Eigentlichen verwirklicht sich der schöne Plan des Buches aber natürlich in Auswahl und Komposition der dargebotenen Literaturdenkmäler, denen jeweils ein- bzw. hinführende Begleitworte beigegeben sind. Hier liegt seit jeher einer der Schwerpunkte des „Herzhaften Hauskalenders“: Blütenlese des bewahrenswerten Schriftgutes, namentlich der Poesie und des Liedschatzes des deutschen Volkes zu sein, dies auch im Blick über die staatlichen Grenzen hinweg in die historischen Siedlungsgebiete hinein. Es ist begrüßenswert, daß sich die neuen Gestalter gegenüber der früher bestimmenden, auch ästhetisch relativ rigiden Konzentration auf den alten „deutschnationalen“ Kanon bedeutend größere Freiheiten herausnehmen. Ein Volk, das kein Volk mehr sein soll, darf es sich nicht erlauben, zu den gleichen Methoden Zuflucht zu nehmen wie diejenigen, die es in diese Lage gebracht haben: auch im Künstlerischen nur jene Teile des Ganzen gelten zu lassen, die die eigene Gesinnung zur Schau tragen.

Der Bedeutungstiefe des Themas entsprechend, entfalten die Beispiele aus der Gedicht- und Erzählliteratur ebenfalls mehrere Hauptstränge, auf faszinierende Weise unterstützt durch Proben aus der Gebrauchsliteratur, etwa lexikalische und volkskundliche Texte. Der ebenfalls aufgenommene Passus aus dem Matthäusevangelium, der von der Gleichnisrede Jesu handelt (Gleichnisse vom Sämann, vom Unkraut unter dem Weizen und von Senfkorn und Sauerteig) öffnet die so außerordentlich reiche symbolische Dimension des Motivs von Saat und Ernte. Sie zielt auf den Kreislauf von Leben und Tod, Werden und Sterben und die metaphysischen Ereignisse der Schöpfung, der Bewährung, des Richtens und der Erlösung. Gleich hält der Kalender einige poetische Verwirklichungen höchster Güte bereit, wie z. B. Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff (aus dem Zyklus „Das geistliche Jahr“), Ricarda Huch („Tod Sämann“), Ernst Wiechert („Geht ein Pflücker übers Land“) oder ein „Erndtelied“ aus „Des Knaben Wunderhorn“:

„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott.
Heut wezt er das Messer,
Es schneidt schon viel besser,
Bald wird er drein schneiden,
Wir müssens nur leiden.
Hüte dich schöns Blümelein! […]“

Selbst als Bildraum für die ungleiche, aber unhintergehbare Lebensbeziehung zwischen Individuum und Kollektiv (Volk) äußerst die Symbolbedeutung sich (Gottfried Keller: „Land im Herbste“):

„[…] Ein wenig Freiheit, wenig Liebe,
Und um das Wie der arme Streit!
Wohl hör ich grüne Halme flüstern
Und ahne froher Lenze Licht;
Wohl blinkt ein Sichelglanz im Düstern,
Doch binden wir die Garben nicht!
Wir dürfen selbst das Korn nicht messen,
Das wir gesät aus toter Hand;
Wir gehn und werden bald vergessen,
Und unsre Asche fliegt im Land!“

Unsere Sprache, merkt man alsbald, vermag gar nicht ohne jene metaphorischen Bereiche auszukommen, selbst dort, wo sie der Metaphysik eigentlich dogmatisch abgeschworen hat. Auch dafür finden sich interessante bis kuriose Beispiele im Buch, etwa aus der Agitationsliteratur des „Arbeiter- und Bauernstaats“ (Hans Lorbeer: „Frühlingslied einer Traktoristin“, Kurt Demmler: „Abendstunde, stille Stunde“).

Wir erleben also im neuen Hauskalender einerseits den vielfältigen Blick auf die Realitäten des uralten Handwerks, das dem fundamentalen Zyklus der bäuerlichen Ackerwirtschaft obliegt. Daß diese einem gewaltigen Wandel unterzogen wurden, als Mechanisierung und Industrialisierung einen Graben der Entfremdung zwischen Mensch und Natur zogen, bleibt in der Auswahl durchaus gegenwärtig. Sie kennt sowohl den mit dem Schicksal verschwisterten, selbstverständlichen Umgang mit der Natur als Arbeits- und Lebenswelt (großartig z. B. im „Vorzug deß Sommers“ des Barockdichters Johann Klaj) als auch die verklärende und überhöhende, nicht selten auch nostalgische Perspektive auf das Bauerntum (z. B. Texte von Karl Springenschmid, Adam Müller-Guttenbrunn und Friedrich Griese), und sie weiß umgekehrt veristisch von einem Menschenschlag zu erzählen, den Entbehrung und soziale Verhärtung im eisernen Griff halten. Gut gewählte Proben aus der anspruchsvollen zeitgenössischen Romanliteratur, etwa aus Franz Innerhofers „Schöne Tage“ (1974), Herta Müllers „Atemschaukel“ (2009), aber auch alltagsgeschichtliche Zeugnisse wie Anna Wimschneiders realitätsgesättigte Lebenserinnerungen „Herbstmilch“ (1987) schärfen das Problembewußtsein – auch dafür, wie die Erbarmungslosigkeit des Geschilderten in der späten Moderne nicht selten eine Unbarmherzigkeit der Autoren gegen sich selbst, also ein zuinnerst verdunkeltes Menschenbild, reflektiert.

Andererseits lädt uns der Hauskalender aber eben auch dazu ein, die sinnbildlichen Tiefen dessen auszuloten, was der menschliche, vor allem der poetische Geist mit diesen „Existentialien“ verband und immer noch verbindet, so sehr auch die zivilisatorischen Umbrüche die Sprache der heutigen Literatur bereits einer Wandlung unterzogen haben. Es sind einige Beispiele von unglaublicher Schönheit enthalten. Stellvertretend seien – weil entweder ausgefallen oder wenig bekannt – zwei hervorgehoben: Zunächst das Gedicht „Der Wolkenbauer“ aus dem Band „Geheimnis und Verzicht“ (1939) von Alfred Margul-Sperber. Der deutschjüdische Lyriker aus der Bukowina gestaltet darin eine grandiose Übertragung des Motivs von Saat und Ernte auf das elementare Himmelsgeschehen:

„Mit weißen Kühen pflügt er blaue Fluren:
Wie Schneegebirge ziehen sie im Rund.
Gewaltig stapft er hinter ihren Spuren
Und wühlt die Pflugschar tief in brachen Grund.

Er lallt den Säerspruch mit schwerer Zunge,
Sein Saatkorn schwirrt: und finster wird die Welt.
Wenn er den Weizen streut mit weitem Schwunge,
So prasselt es auf Scheunendach und Feld.

Wie wohl zum Segen ist das Jahr geraten,
Wie das Gefilde schwillt zum Himmelsrand!
Nun geht er durch die Meere goldner Saaten
Und prüft der Körner Reife mit der Hand.

Bald siehst du seine Sichel feurig schweifen,
Die schweren Schwaden türmen sich zuhauf,
Und siehst ihn hart der Rosse Zügel greifen,
Wenn in der Tenne donnernd bricht ihr Lauf.

Das Jahr war groß. Nun wird das Fest bereitet.
Die Wolkenmühlen mahlen alles klein.
Wie Nebelrauch, der sträubend sich verbreitet,
Fällt weißes Mehr und deckt die Erde ein.“

Und dann die Passagen aus dem Roman „Die Wand“ (1963) der oberösterreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer: In diesem Werk, heute oft genug auf feministische Bewältigungsliteratur reduziert, begegnet in Wahrheit ein Stück großer Prosa mit allgemeingültiger Kraft und Dichte, das nicht der ideologischen Vereinnahmung bedarf. Auch für die in eine dystopische Situation der Vereinsamung geworfene Erzählerin Haushofers verbindet sich mit dem Versuch der Erdäpfelpflanzung, der in der abgedruckten Sequenz geschildert wird, etwas unendlich Mühseliges und Bedrückendes. Aber der Eindruck ist nicht zufällig, daß es in ein milderes Licht der inneren und äußeren Notwendigkeit getaucht erscheint und so einen gewissen Kontrast zu den zuvor genannten anderen Werken der Gegenwartsliteratur offenbart, in denen die Heillosigkeit gänzlich undurchlässig wirkt.

Vielleicht das Erhabenste im Bereich der weltlichen Literatur deuten die Auszüge aus Adalbert Stifters solitärem Bildungsroman „Der Nachsommer“ (1857) an. Hier wird das gesamte Gefüge der Feld- und Gartenarbeit, eingebettet in ein wohlgegliedertes, besonnen geleitetes Landgut, zum Ausdruck eines Ordo-Bewußtseins edelster Prägung, das Nützlichkeit und Schönheit, Arbeit und ästhetischen Genuß miteinander verbindet; Ideal, aber bei weitem nicht Illusion.

„Es ist ein gesegnetes, ein von Gott beglücktes Land“, sagt der junge Erzähler zu seinem Gastfreund, dem Freiherrn von Risach, als dieser ihn durch sein Gut führt und sie auf einer Anhöhe halten, um die weithin von Feldern und Obstkulturen bestellte Umgebung zu überblicken. Die Antwort des Älteren greift kulturphilosophisch aus: „,Ihr habt recht gesprochen‘, erwiderte er, ,Land und Halm ist eine Wohltat Gottes. es ist unglaublich, und der Mensch bedenkt es kaum, welch ein unermeßlicher Wert in diesen Gräsern ist. Laßt sie einmal von unserem Erdteile verschwinden, und wir verschmachten bei allem unserem sonstigen Reichtume vor Hunger. […] Die ruhige Verbrauchung und Erzeugung zieht eine unermeßliche Kette durch die Menschheit in den Jahrhunderten und Jahrtausenden. Überall, wo Völker mit bestimmten geschichtlichen Zeichnungen auftreten und vernünftige Staatseinrichtungen haben, finden wir sie schon zugleich mit dem Getreide, und wo der Hirte in lockeren Gesellschaftsbanden, aber vereint mit seiner Herde lebt, da sind es zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch ihre geringeren Verwandten, die Gräser, die sein ebenfalls geringeres Dasein erhalten. […]‘“

Einwände? Eher Empfehlungen: Eine etwas sorgfältigere Druckfehlerkontrolle, die auch zur Vermeidung mancher sachlichen Irrtümer beigetragen hätte, wäre angebracht gewesen (so werden z. B. an einer Stelle, S. 40, die Verse nicht entlang der Reimwörter umbrochen, an einer weiteren Stelle, S. 122, wird ein anderes Gedicht eingeleitet als abgedruckt). Vor allem aber wäre künftig etwas weniger Biographismus in den Porträttexten zu den Literaturbeiträgen wünschenswert. Auf welch ausgefallene Art der eine Schriftsteller zu Tode kam, daß sich der andere mit dem geschiedenen Ehepartner wieder vermählte, oder wie der dritte endlich doch eine wohldotierte Stellung erlangte, trägt wenig bis gar nichts zum besseren Verständnis der ausgewählten Werke bei. Stattdessen könnte den wertvollen deutenden Fingerzeigen der Raum gegeben werden, den sie jetzt schon verdienen.

Doch das nur nebenbei. Fazit: Mit dem neuen „Herzhaften Hauskalender“ von „Aussaat“ bis „Ernte“ durch das Jahr und die Literatur- und Kulturgeschichte zu reisen sei jedem ans Herz gelegt. Sogar ein Kochrezept (für „Sauce Vinaigrette mit Wildkräutern“) bekommt man mit auf den Weg. So ausgerüstet, kann man 2024 eigentlich weder seelisch noch körperlich verhungern!

Herzhafter Hauskalender, Jg. 71 (2024): Aussaat und Ernte. Hg. v. Sozialen Friedenswerk, zusammengestellt v. Konrad Markward Weiß u. Caroline Sommerfeld. Wien 2024; ISBN 978-3-9505478-0-1, € 23,00.

Bestellungen können auch an hauskalender@friedenswerk.at gerichtet werden.

 

Abbildung: Illustration zur Johannesapokalypse aus der Weimarer Lutherbibel (um 1530); siehe: https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/935052658/981/

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